Rungholt – das Atlantis der Nordsee

Jedes friesische Kind kennt dieses Gedicht:

„Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört. […]

Trutz, Blanke Hans von Detlev v. Liliencron, 1883

Es ist eine friesische Sage um das reiche Rungholt, welches in einer Sturmflut versank. Angeblich, war der Ort reich und gotteslästerlich geworden. Man soll, am Johannistag alle sieben Jahre die Glocken der untergegangenen Kirche hören, allerdings, nur wenn man ein Sonntagskind ist.

Karte von 1662. Die Insel Nordstrand ist abgebildet. In ihr ist eine große Bucht, die mit Rungholt beschriftet ist.

Karte von Johannes Bleau von 1662 (Gemeinfrei)

Diese Sage ist mehr als ein Kinderschreck, es war und ist die kulturelle Verarbeitung der Naturgewalten im Lebensraum an der Nordseeküste. Diese Sage wird heute wissenschaftlich erforscht, denn:

Rungholt hat es wirklich gegeben

Die Grote Mandrenke, sagt man auf Platt. Das heißt so viel wie großes Ertrinken. Gemeint ist die zweite Marcellusflut: Eine gewaltige Sturmflut im Jahre 1362. Diese Sturmflut riss riesige Landmassen an der Nordseeküste mit sich. Der Legende nach eine Strafe Gottes, für das sündige Verhalten der Rungholter.

Ein alter Kupferstich einer Siedlung, bei der nur Dächer aus dem Wasser schauen, dazu gehrt ein spitzes Kirchendach.

Historische Darstellung (Bild: Museumsverbund Nordfriesland)

Verschiedene Legenden kursieren um ein beim Abendmahl betrunken gemachtes Schwein, um Oblatenmissbrauch und einen verprügelten Pfarrer, der Gott bat, diese Leute zu bestrafen. Der Legende nach verließ der Pfarrer die Stadt mit seiner Magd und zwei Jungfrauen. Noch in derselben Nacht wurde der Ort von der Flut verschluckt:

„[…] Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?“

Ein solches Ereignis hinterlässt Spuren, und das nicht nur in der kulturellen oder der Lyrikgeschichte. Menschen sind stark von ihrer Umwelt geprägt und sie haben auch die Natur geprägt. Teile des Landes wurden vom Wattenmeer abgerungen. Die Siedlungsgebiete werden eingedeicht. 1362 waren diese Deiche dann vmtl. nicht hoch genug. Weitere friesische Gebiete bestehen aus abgebauten Torfmooren. Das ist nicht nur heute ein großes ökologisches Problem.

Karte: Der ehemalige Küstenverlauf von Nordfriesland. Eingezeichnet sind in grün die Orte wo heute die friesischen Inseln liegen. Diese wahren damals alle auf dem Festland.

Die Küste gegen 1240, und im Vergleich dazu in Grün angezeigt, der heutige Küstenverlauf und die friesischen Inseln. Deutlich zu sehen ist, wie viel Land bei den beiden großen Sturmfluten verloren ging (Bild: Gemeinfrei).

Denn: Nicht nur, dass Moore CO₂-Speicher sind – es scheint die Flut von 1362 auch so eine große Wirkung gehabt zu haben, weil der abgebaute Torf wie eine Schutzschicht gewesen ist, die nun fehlte. Das Wasser konnte so viel intensiver das Land verwüsten, weil der Boden eine instabile Struktur hatte. Das ist zumindest eine Idee, die derzeit ebenfalls erforscht wird. 1634 kam es dann zur zweiten Groten Mandrenke. Diese Flut hat einmal mehr das Land verwüstet. Die Folge dieser großen Überflutungen ist vor allem: Da, wo einmal Land war, ist heute das Wattenmeer. Dieses Wattenmeer können wir archäologisch untersuchen. Prüfen, wie Rungholt einmal ausgesehen hat.

Ein Blick auf archäologische Forschung im Wattenmeer

Untersucht wird das Watt westlich von der nordfriesischen Insel Nordstrand. Hier soll der Verwaltungsbezirk Endomsharde gelegen haben und Rungholt soll Teil dieses Verwaltungsbezirkes gewesen sein. Das heißt, es kann auch sein, dass, wenn man hier einen archäologischen Fund macht, der von einem einzelnen Hof stammt, der gar nicht zu der Stadt gehört, sondern ein Relikt des damaligen Umlandes gewesen ist. Seit langem gibt es hier Funde im Watt, die zu der Zeit der Groten Mandrenke passen. Freigespült durch die Flut.

Einige Objekte auf einer Kiste. Ein ziegenschädel, zwei Äxte, 5 Ziegelbruchstücke, drei nicht erkennbare Übereste von igendwas.

Solche Funde lassen sich in der Umgebung im Watt auflesen (Bild: Müllerchen (CC BY-SA 2.0 de)).

Hier ein Ziegel, dort eine Keramik, hier eine Axt. Schon lange werden solche Objekte gesammelt und immer wieder gibt es ortskundige Wattwanderungsguides, die auch den ein oder anderen interessanten Ort kennen. Zum Beispiel einen alten Pütt. Das ist eine Wasserzisterne, die als großes rundes Loch einst als Brunnen diente. Solche Löcher kann man bis heute im Watt finden. Aber bisher wusste man nie, war das ein einzelnes Gebäude, oder wirklich Rungholt. Dass man nun aber, bei der strukturierten Untersuchung tatsächlich Rungholt gefunden hat, das ist sehr wahrscheinlich.

Wie kann man wissen, dass es Rungholt ist, und kein kleines Nebendorf?

Im Wattenmeer sind die Überreste von Warften erhalten, das sind künstlich aufgeschüttete Hügel, auf denen man nahe der Nordsee gelebt hat. Diese Hügel hatten den Zweck, dass bei einer Sturmflut diese Bereiche der Landschaft nicht unter Wasser stehen. Man baute also seine Häuser und vor allem auch seine Kirche auf eine solche Warft. Ein Beispiel dafür ist die Kirche von Tossens, die ich für euch schon einmal besucht habe.

Gemälde einer Sturmflut. Ein Hof von Wilden Wellen umschlossen. Dch die Tiere und das Haus stehen sicher auf einem Hügel.

Auf der Warft (auch Wurt genannt) sind Mensch und Tier sicher (Bild: Museumsverbund Nordfriesland).

In dem Bereich, in dem Rungholt vermutet wird, wurden solche Warften gefunden, alleine bei Forschungen im ersten Halbjahr 2024 19 Stück, schon davor waren 54 weitere Warften bekannt. Das ist sehr viel – und eben kein kleiner Ort mehr. Ein Blick auf die Siedlungsstruktur des Mittelalters wird dadurch möglich, dass man dieses Gebiet, das mehr als 10 Quadratkilometer umfasst, genauer betrachtet. Heute kennt man den gesamten Siedlungsraum zwischen der Kirche und dem ehemaligen Hafen von Rungholt – ein damals dicht besiedeltes Gebiet.

Wie forscht man im Watt?

Das Wattenmeer kann man nur unter bestimmten Umständen erforschen. Hier steht bei Flut alles unter Wasser, und bei Ebbe handelt es sich um schlickiges Land. Dies hat übrigens eine große Artendiversität und ist deswegen Weltnaturerbe. Man kann also nicht einfach dahin spazieren, sondern man muss auf die Tide achten.

Geomagnetische Prospektion in weitem Watt. Im Hintergrund ist das meer mit einem Schiff in Legogröße zu erkennen.

Das Wattenmeer besteht aus schier unendlichen Weiten aus Schlick (Bild: Dirk Bienen-Scholt).

Also darauf, dass man nicht von einer Flut überrascht wird. Wenn man hier forscht, watet man den ganzen Tag durch Schlamm und Schlick. Das ist körperlich anstrengend und erfordert vor allem, dass man sich gut vorbereitet. Weil die Region jeden Tag zweimal überflutet wird, ist es zeitintensiv den exakten Ort wiederzufinden, an dem man aufgehört hat, z. B. Messungen durchzuführen. Denn das Wasser wirbelt einem täglich alles wieder durcheinander – diese Forschung wird dadurch zeitlich in die Länge gezogen. Die Warften sind oftmals schwer zu erkennen, denn sie sind über die Jahrhunderte stark erodiert.

5 Personen stehen neben einer Ausgrabung im Watt. Das Loch ist ca 50 mal 50 cam groß.

Eine kleine Ausgrabung im Watt (Bild: Ruth Blankenfeldt).

Hinzukommt: Im Naturschutzgebiet muss natürlich umweltschonend geforscht werden. Deshalb werden hier hauptsächlich mit Probebohrungen Sedimentbohrkerne endnommen – Also Bohrkernen auf denen man dann die Bodenschichtung untersuchen kann. Oder es werden winzige Ausgrabungen mithilfe eines Metallrahmens, der das flüssige Watt abhält in das Loch zu laufen gemacht.  Aber vor allem werden geophysikalischen Analysen durchgeführt. Damit kann man sich die Bodenstruktur genau ansehen.

Wie funktioniert eine archäologische geophysikalische Analyse?

Die gängigste Methode ist die Geomagnetik. Dabei misst man mit einer Sonde das Erdmagnetfeld. Anhand dieser Messungen kann man sehen, ob es im Boden Schwankungen gibt. Liegt dort zum Beispiel ein Mauerrest, dann kann man das an dem Messergebnis strukturell erkennen, da das Magnetfeld dort anders ist, als wenn man mit der Sonde ein paar cm weiter eine Messung macht, dort, wo keine Mauer im Boden verborgen liegt.

Ein Wagen mit 6 Sonden im Watt. Eine Person zieht, die andere schiebt.

So sieht es aus, wenn man eine geomagnetische Prospektion macht (Bild: Jan Steffen, Cluster ROOTS/Uni Kiel)

Das heißt, man macht ganz viele Messungen nebeneinander, deren Ergebnisse dann in einer Karte angezeigt werden. Auf der Karte kann man dann Strukturen erkennen, und so ganze Siedlungen wieder finden. Um diese vielen Messungen zu machen, benutzt man meistens einen schiebbaren Wagen, an dem gleich mehrere Sonden angebracht sind. Diesen schiebt man über das Watt. Die Sonden machen, immer im gleichen Abstand, gleichzeitig eine Messung, sodass man ein riesiges Raster mit Messdaten hat, wenn man mit dem Wagen in Bahnen über die Fläche fährt, die man untersucht.

Gibt es dabei besondere Funde?

Eine Kirche konnte, auf einer Warft, die zu einer langen Kette aus mittelalterlichen Warften bestand, gefunden werden. Diese Struktur wurde im Wattenmeer wiederentdeckt und dann im Jahr 2023 weiter untersucht. Diese Warften erstrecken sich über einen Raum von 2 km. Und auf einer Warft lag dann der Grundriss einer 15 m breiten und 40 m langen Kirche. Diese Größe spricht stark dafür, dass es sich hier um einen großen Ort gehandelt haben muss.

Ein kleiner Schnitt im Boden, und ein Forscher, der etwas misst.

Untersuchungen am Kirchenfundament (Bild: Jan Steffen, Cluster ROOTS/Uni Kiel).

Denn so groß sind in den friesischen Gebieten, eigentlich nur die Hauptkirchen, in den großen Orten. Die gewaltige Siedlungsstruktur und diese große Kirche sprechen also dafür, dass dies wirklich Rungholt ist. Die Kirchenglocken, die man angeblich bis heute hören soll, wurden bislang nicht entdeckt. Dafür hat man aber einen wichtigen Teil der friesischen Kulturgeschichte wiedergefunden und gezeigt, dass der Kern dieser Sage, die man uns schon als Kindern erzählt, tatsächlich wahr ist.

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Literatur:

https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/097-rungholt

https://www.uni-kiel.de/de/cluster-roots/forschung/schwerpunktthemen/roots-hazards/wadden-sea

https://www.uni-kiel.de/de/cluster-roots/detailansicht/news/135-rungholt

https://www.archaeologie-online.de/nachrichten/weiterer-ortsteil-von-rungholt-nachgewiesen-5948/

https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesportal/land-und-leute/typisch-sh/sagen-und-legenden-aus-dem-norden/_documents/rungholt.html