Das Holstentor in Lübeck – ein Denkmal wird gerettet

Die Blütezeit der Hanse ist lang vorbei, die Besetzungszeit Napoleons hat tiefe Spuren hinterlassen. 1815 wurde dann auf dem Wiener Kongress eine Entscheidung gefällt, die für Lübeck zusätzlich bedrohlich wirkte. Das Herzogtum Lauenburg fiel an Dänemark und Lübeck war damit westlich und südlich direkt von dänischen Hoheitsgebieten umgeben. Die Stadt ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts fast pleite. Der Bankrott wird nur durch Zahlungen, die einige Reiche Händler leisten, mehrfach abgewendet. Ideen müssen her – und zwar schnell.

Schwarzweisfotografie der alten Salzspeicher an der Trave. Die Gebäude sind stark verfallen, es wirkt als könnten sie jeden Moment zusammenbrechen.

Auch die Salzspeicher Lübecks lagen dicht am Holstentor und waren in die Befestigungsanlagen integriert. Nun verfallen sie immer mehr. Am Ende sind sie so ramponiert, dass sie 1922 als Kulisse für den Film Nosferatu herhalten müssen. Dieses Foto ist allerdings älter (Filmausschnitte findet ihr in der Literatur ganz unten).

War es nicht der Handel, der die Stadt groß gemacht hat? Die modernsten Techniken? Wie wäre es also mit dem modernsten Transportmittel: der Eisenbahn. Das einzige, was diesem Plan der Infrastrukturerneuerung im Weg steht, ist ein altes marodes Stadttor, das man einfach abreißen könnte.

Ich möchte euch die Geschichte von der Rettung des Holstentores erzählen:

Das Holstentor ist eines von drei mittelalterlichen Stadttoren, die einst in die Stadt führten. Aber es ist das einzige Stadttor, das es im 19. Jahrhundert noch gibt. Einem Zeitalter der modernen Technik, aber auch der Romantisierung des Mittelalters. Und so regt sich schnell Widerstand gegen die Idee, das Holstentor niederzureißen. 1850 waren die Pläne schon gemacht. Und der dänische König, hatte bereits zugestimmt, eine Bahnleine zwischen Hamburg und Lübeck quer durch sein Territorium zu bauen.

Das erste Bahnhofsgebäude Lübecks wurde 1851 an der Stelle eröffnet an dem zuvor einmal das Barocke äußere Holstentor Stand.

Der erste Lübecker Bahnhof direkt am Holstentor.

Während der Bahnverkehr seit 1851 ganz in der Nähe seinen Betrieb aufnimmt, ist das Holstentor plötzlich beliebt und doch halb verfallen. Die Ruine steht inmitten von Signalen einer Hauptverkehrstrasse. Was früher die Stadt schützte, steht ihr nun im Weg. Die Stadttorruine stört. Doch sie liegt vielen auch am Herzen und so entbrennt ein Streit. In dieser Zeit wünscht sich die Bahn ein gutes Image. Der Kölner Hauptbahnhof steht nicht zuletzt deswegen direkt am Dom.

Malerei im Vordergrund der Kölner Dom direkt dahinter schaut der Hauptbahnhof hervor.

Köln: Der Bahnhof und der Dom liegen direkt nebeneinander (Malerei von 1900).

Das Historische sollte mit dem Modernen verbunden werden, so sollte die Bahn heimatverbunden wirken. Der moderne Nationalstaat mit den historischen Wurzeln soll symbolisiert werden. Ein Abriss des mittelalterlichen Stadttores würde dem entgegenlaufen. Deswegen ist es letztendlich auch der Bahnhof, der dazu führt, dass immer mehr Stimmen zum Schutze dieses Kulturerbes aufkommen. Und das, obwohl die Anbindung der Stadt an den Bahnhof durch das Tor schwierig ist.

Der Streit ums Holstentor

Ab 1854 werden im Rahmen der Diskussionen um das Tor erste Entwürfe für eine Restaurierung entwickelt. Papiere, die auch den traurigen Zustand des Gebäudes dokumentieren. 1855 fallen einige Teile aus dem Gesims des Südturmes einfach aus dem Mauerwerk herab. Es wird befürchtet, dass der Bau nicht mehr zu retten ist, und so unterzeichnen 683 Bürger Lübecks die Forderung, das marode Verkehrshindernis endlich abzureißen. Das ist der Moment, wo sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV einschaltet.

Das Holstentor in einem klapprigen Zustand. Es sieht erbärmlich aus.

Das sieht echt traurig aus. Diese Aufnahme entsteht im Zuge der Diskussionen in den 1850ern.

In einem Aufruf eines Altertumsvereines spricht er für den Erhalt der Bausubstanz, denn zu diesem Zeitpunkt gilt das Holstentor für das preußische Kulturerbe als ebenso wertvoll wie der Kölner Dom oder die Porta Nigra. Im Laufe der weiteren Diskussionen wird klar: Man kann das Gebäude nur noch abreißen oder kostspielig sanieren. Sonst wird es zeitnah kollabieren, denn im Laufe der Jahrhunderte war das Tor abgesackt. Große Risse im Mauerwerk müssen repariert werden. Das ganze Gebäude ist in einem bedenklichen Zustand.

Das erste Bahnhofsgebäude Lübecks wurde 1851 an der Stelle eröffnet an dem zuvor einmal das Barocke äußere Holstentor Stand.

1858 gründet sich deswegen der Verein zum Erhalt des Holstentores. Die Fronten in der Diskussion um Erhalt oder Abriss verhärten sich zunehmend. 1863 nach zähem über 10 Jahre langem Ringen entscheidet die Bürgerschaft sich dann, mit nur einer Stimme Mehrheit, schlussendlich für den Erhalt des Holstentores. Das ist unpraktisch für die Verkehrsanbindung, die bis heut eng um das Tor herum verläuft. Aber gut für Lübeck, denn das Tor soll wieder ein Wahrzeichen werden. Es ergeht der Beschluss, es zu restaurieren.

Das Holstentor wird Wahrzeichen

Ein Jahr später wird dann das Ende der Lübecker Torsperre beschlossen, und das heißt, man kann nun auch vor den ehemaligen Stadtgrenzen wohnen. Reiche Lübecker Familien bauen sich jetzt große Häuser vor dem ehemaligen Stadttor im Grünen. Sie ziehen aus den kleinen Häusern der beengten Altstadt aus, die sie an Ärmere vermieten. Das Stadttor rückt deswegen, in den nächsten Jahren, in den Mittelpunkt Lübecks, zwischen der alten und der neuen Welt. Aber noch ist das Wahrzeichen eine Baustelle, denn: auf die politische folgt die physikalische Rettung. Dazu wird erst einmal das Nötigste getan, um das Gebäude zu sichern. Dann werden auch die Kleinteile ins Auge gefasst. Ab 1865 werden die ramponierten Bauornamente und durch den Zahn der Zeit beschädigten Terrakottafriese restauriert.

Das Umlaufende Terrakottafries mit symetrischen mustern in der Mitte zwei Jungen die den Lübecker Doppelkopfadler säumen. Die Jungen haben verschiedene Farben.

Wen man das Terrakottafries heute genau ansieht fallen einen die Unterschiede auf in den einzelnen Details. Vor allem in der Materialfarbe und Beschaffenheit.

Hierfür wird extra der Töpfermeister Grootjann beauftragt. Dieser macht teilweise sehr gute und teilweise fragwürdige Arbeit. Mit großem Feingefühl stellt er vergangene Ornamente wieder her. Doch manchmal gelingt es ihm nicht. Im Nachhinein betrachtet kann man dazu nur sagen: Möglich, dass die Bausubstanz teils so schlecht erhalten war, dass er die Originalornamente nicht mehr richtig rekonstruieren konnte und es deswegen zu einigen unpassenden Rekonstruktionen kam. Das bezieht sich auf bestimmte Details, wie beispielsweise die Umrandung des Stadtwappens, die nicht im Stile der Bauzeit rekonstruiert wird. Grootjann kommt einfach zu spät für eine Rettung des gesamten Originalzustandes. Das Tor war eben bis vor wenigen Jahren kein Wahrzeichen, sondern Störfaktor und wurde jahrhundertelang nicht richtig gepflegt. In der Zeit um 1870 wird das Tor also nicht nur renoviert, es wird auch verändert. Und so ist nicht alles aus dem Mittelalter, was heute so auf uns wirkt.

Eine Gewölbeverstrebung, in der Mitte ein geziegelter Kreis, rundum gehen spinnenförmig Stützstreben davon ab.

Dieses schmucke Gewölbe im großen Durchgang des Holstentores ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Das zwölfstrahlige Gewölbe über der Durchfahrt zum Beispiel ist eine Idee aus dem Jahre 1870. Vielleicht ist im 19. Jahrhundert der Originalzustand einfach nicht mehr bekannt, oder man hat sich bewusst entschieden, das Gebäude noch historischer erscheinen zu lassen. Auf alten Malereien zeigt sich das Tor am Giebel auf beiden Seiten ausgestattet mit je 5 goldenen Türmchen. Und diese hatten sehr hochgezogene Dächer. Die Giebel, so wie wir sie heute kennen, sind das Ergebnis einer Rekonstruktion aus der Zeit 1863/1871. Der Stufengiebel in der Mitte wird gleich ganz neu gestaltet. Es ist das 19. Jahrhundert, die Zeit des historisierenden Baus.

Ausschnitt aus dem Holstentor, Bauinschrift und Falltür sind zu sehen.

Auch die Falltür und die Bauinschrift sind aus dem 19, Jahrhundert.

Das heißt, es ist wichtiger den Bau so zu zeigen, wie man sich das Mittelalter romantisch vorstellt, als das Original zu erhalten. In diesem romantischen Sinne bekommt das Holstentor seinen Fassadengiebel. Das Gebäude soll durch diese Veränderung noch mittelalterlicher wirken, als das mittelalterliche Original. Auf der innenliegenden Seite des Tors wird gleichzeitig der Inschrift S.P.Q.L. für Senatus Populusque Lubicensis und die Zahl 1871 hinzugefügt – dem Datum der deutschen Reichseinigung und damit ein Bekenntnis zum neuen deutschen Nationalstaat.

Der Beginn des Holstentortourismus

Ab dieser Zeit wird das Holstentor dann tatsächlich deutschlandweit zu dem bekannten Symbol. Und es beginnt das, was in solchen Fällen immer beginnt – der Touristennepp startet. Erste Holstentormarzipantorten werden gebacken. Holstentor Medaillen, Holstentorfiguren und natürlich das Holstentor als Modell zum Nachbasteln aus Papier für Kinder wird produziert. Von der Handtasche bis zum Kissenbezug, mit dieser Renovierung beginnt der beispiellose Siegeszug des Holstentores als Wahrzeichen und Neppartikel. Und auch der Nippes führt nicht zuletzt dazu, dass das Tor immer bekannter wird. 1897 gibt es dann schließlich die erste Holstentor Briefmarke. Und als sich 1901 die Firma Niederegger gründet, wird das edle Marzipan und das Holstentor ein gegenseitiges Synonym füreinander.

Bastelbogen von 1880

Unter dessen verneigt sich das beliebte Gebäude vor seinem begeisterten Publikum. Zwischen dem Ende der 20er und dem Anfang der 30er Jahre wird eine bedenkliche Westneigung festgestellt. Der weiche Boden am Traveufer gibt nach, und das Holstentor droht auseinander zu brechen. Doch nicht nur das beschäftigt die Menschen zu Beginn der 30er Jahre. Das Holstentor wird renoviert und restauriert in einem Zeitalter erstarkender Nationalgedanken, und der Heroisierung von Germanen. Doch diese Geschichte werde ich euch im fünften Teil dieser Reihe in einer Woche erzählen.

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Hier findest du Teil 1, Teil 2 und Teil 3 dieser Serie.

Literatur:

Wulf Schadendorf: Das Holstentor zu Lübeck – Der Bau und seine Geschichte. Niederdeutscher Verband für Volks- und Altertumskunde 2, Lüneburg 1978.

Wulf Schadendorf: Das Holstentor – Symbol der Stadt Gestalt, Geschichte und Herkunft des Lübecker Tores, Lübeck 1977.

Manfred Finke: UNESCO Weltkulturerbe – Altstadt von Lübeck – Stadtdenkmal der Hansezeit, Hannover 2006.

Schlagwort: Altstadtsanierung. Holstentor, In: Lübeck-Lexikon – Die Hansestadt von A – Z, Antje Graßmann (Hrsg.), Lübeck 2006.

https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2005/5/bollwerk-hanseatischer-macht.php