Litjoko – Die Puppen der Karajá und was sie uns über kulturelle Identität lehren

Manche Objekte der Kulturgeschichte rauben einem den Atem. Der Grund kann dabei ganz unterschiedlich sein. Und so saß ich eines schönen Tages mit stockendem Atem in der Bibliothek, und betrachtete lange und ungläubig eine Bildersammlung von Litjokos. Was mir so verrückt vorkam: Diese Objekte stammen aus Brasilien – sie erinnern aber unweigerlich an die Idole der Jungsteinzeit in Europa.

Drei Idolfiguren aus Marmor. Sie haben herausgearbeitete Beine, verschränkte Arme und eine Glatze. Die Schultern sind eckig. Es sind Frauen mit kleinen Brüsten. Sie sind nackt.

Drei Kykladenidole aus der Jungsteinzeit (Ausgestellt: Vorgeschichtsmuseum Berlin/Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).

Jetzt gibt es an diesen Vergleich allerdings einige Probleme: Zum einen ist ein interkultureller Vergleich über eine Zeit und Raum spanne – ein sog. Ethnologischer Analogieschluss stark anfällig für aus Versehen reproduzierte rassistische stereotype. Zum anderen funktioniert diese Methode oftmals als Hebel für Fehlinterpretationen, da es kaum eine Methode gibt in der Archäologie, die derart fehleranfällig ist. Und das heißt, aus dem Gebrauch der Litjoko in Brasilien eine gleichartige Funktion in der Jungsteinzeit herzuleiten, wäre grob fahrlässig.

Zwei Kykladenidole. Eine Person ist stehend dargestellt und spielt aus einer Doppelflöte, die andre Person sitzt auf einem Stuhl und spielt auf einer Art Harfe. Die Marmorfiguren sind sehr schlicht, die Gesichtszüge sind mit ausnahm der Nase nicht vorhanden. Die Figuren haben keine Haare, und Kleidung ist nur durch minimale Ritzungen angedeutet.

Zwei Figuren, die Musik spielen, ebenfalls aus der griechischen Jungsteinzeit (Foto: Sailko (CC BY-SA 3.0)).

Dennoch möchte ich euch diese unglaublich tollen Figuren zeigen – denn auch wenn sie keinerlei Belegkraft für die Bedeutung der kleinfigürlichen Kunst der europäischen Prähistorie haben, erweitern sie den interpretativen Inspirationsrahmen um einen weiteren, sehr niedlichen, Blickwinkel. Und deshalb ein Blick auf:

Litjoko – Das Spielzeug der Kinder vom Amazonas

Die Karajá sind eine Kultur, die eine Amazonasflussinsel bewohnt. Hier werden wunderschöne Federkronen hergestellt, aber auch diese sehr interessanten Figuren. Diese sind nicht nur besonders hübsch, sondern sie sind Bestandteil eines kulturellen Phänomens, dass wir auch kennen: Die kleinfigürliche Kunst dient bei den Karajá, nämlich als Kinderspielzeug.

Eine Tonpuppe. Sie hat langes schwarzes glattes Haar und ist ansonsten weiß gestaltet, mit vielen schwarzen Ringeln.

Figürliche Darstellung der Karajás. Die Figur zeigt eine Frau mit dem Namen Litxo. Auch der Name der Töpferin, UÈRIKO OEXARO ist bekannt. Die Figur zeigt die Frau in ihrer traditionellen Kleidung und Bemalung. Der traditionelle Lendenschurz ist noch als Abdruck sichtbar, aber nicht mehr vorhanden (Foto: Das Bild stammt von einer Gedenkaktion an die Objekte, die im Nationalmuseum Rio de Janeiro verbrannt sind).

Sie funktionieren wie Puppen, welche dem pädagogischen Konzept der Karajá nach dazu dienen, die Erwachsenenwelt nachzustellen, um so diese Welt nach und nach zu erlernen. Sowohl Jungen als auch Mädchen spielen mit solchen Puppen, die Litjoko genannt werden. Ursprünglich war das Spielzeug absichtlich kindgerecht hergestellt. Deswegen zeigen die Litjoko auch Merkmale der einzelnen Clans, die aber ohne eine Erklärung nicht zu versehen sind. Es handelt sich dabei zum Beispiel um bestimmte Muster bei der Körperbemalung, welche die Erkennungszeichen der Clanzugehörigkeit sind. Verschiedenste Tätigkeiten werden so abgebildet, um diese zu erklären. Teilweise ist das Leben der Karajá so detailreich dargestellt, dass die Puppen tatsächlich existierende Menschen zeigen. Und das heißt anhand von altem Spielzeug lassen sich auch Dorf und Ortsgeschichten rekonstruieren.

Die Herstellung der Figuren

Die Puppen wurden aus Ton gefertigt. Also geformt und gebrannt, die Frisuren bestehen aber teils aus Wachs – die wurden erst nach dem Brennen auf die Figur aufgetragen, welche dann bemalt wurde. Stilistisch ist bei diesen Figuren auffällig, dass die Beine der dargestellten Menschen oftmals überdimensioniert erscheinen. Sie sind gerade im Oberschenkelbereich besonders breit gestaltet – in einigen Fällen sind die gesamten Beine als runde füllige Kugeln ausgestaltet. Das hängt mit einem Schönheitsideal zusammen, welches ich auch in anderen Merkmalen äußert, die dargestellt werden.

Karaja Figuren zum Tanz aufgestellt.

Die Farben, mit denen die Figuren bemalt, sind bestehen aus Ruß, für schwarz, weißer Erde, für das weiß und den Saft aus bestimmte Baumrinden für die Rottöne. Es sind die gleichen Materialien, mit denen sich auch die Karajá selbst bemalen, weil sie Heilkräfte haben sollen. Wissenschaftlich konnte immerhin ein Sonnenschutzfaktor nachgewiesen werden. (Foto: Das Bild stammt von einer Gedenkaktion an die Objekte, die im Nationalmuseum Rio de Janeiro verbrannt sind).

So werden Frauen stets mit einem Lendenschurz gezeigt, der so eng gebunden ist, dass sich eine Bauchfalte über dem Schurz ergibt. Diese Falte gilt als besonders Zeichen der Schönheit und Weiblichkeit bei den Karaja. Weibliche Brüste, wie wir sie kennen und die bei uns ein Schönheitsideal sind, werden nur nachrangig gezeigt, sie haben keine große Bedeutung in dieser Ausprägung von Ästhetik und sind in der gesamten Kultur anscheinend nicht von Belang. Und das ist ein wunderschönes Beispiel dafür, dass es das Ergebnis kultureller Prägung ist, welche Körperteile eine Gesellschaft als sexy, verrucht oder attraktiv empfindet. Bei den Karaja jedenfalls waren, wie in den meisten Kulturen, die Haare von besonderer Relevanz. Und deshalb kann man beobachten:

Die Frisuren sind sehr detailliert dargestellt.

Als Anzeiger der jeweiligen Identität orientiert sich eine Frisur eines in dieser Kultur lebenden Menschen an dem jeweiligen Alter, das die dargestellte Person hat. So hat beispielsweise der Mittelscheitel bei den Karajá eine besondere Bedeutung, die an die männliche Pubertät gebunden ist. Der Mittelscheitel wird, gehegt, gepflegt und sogar ausrasiert, um die Pubertät und das herannahende Erwachsenenalter der Person anzuzeigen. Dies kombiniert sich dann zu einem Reife fest, bei dem man die Wangen tätowiert bekommt. Ein kulturelles Symbol, welches man auch deutlich auf den Gesichtern der Tonpuppen – den Litjoko sehen kann.

Eine doppelte Karaja Figur. Zwei Menschen tragen eine Schilfmatte auf den Schultern. Sie haben schwarzes glattes Haar und sind orange bemalt, mit weißen Mustern, die schwarz umrandet sind.

Durch die Darstellung der Kulturtechniken für Kinder lässt sich über diese Puppen auch historisch nachvollziehen, wann welche Kulturtechnik in dieser Kultur alltäglich wurde (Foto: Das Bild stammt von einer Gedenkaktion an die Objekte, die im Nationalmuseum Rio de Janeiro verbrannt sind).

Wie die Karajá selbst tragen, also auch die Puppen diese Stammeszeichen auf den Wangen. Diese Stammeszeichen sind meist Kreise, diese haben geringe Varianzen. Da sich die Kultur allerdings seit ihrer „Entdeckung“ im späten 19. Jahrhundert stark dezimiert hat (Die Population ist auf weniger als 10% geschrumpft), kann es sein, dass einige Stammesbemalungen und Tätowierungen, welche auf den Figuren zu beobachten sind, heute nicht mehr zu verstehen sind, da es die entsprechenden Dörfer nicht mehr gibt. Und dennoch gelten die Litjoko als herausragende brasilianische Nationalkunst:

Da diese Puppen sehr hübsch sind, sind sie ein beliebtes Touristenmitbringsel geworden.

Eine Keramikpuppe einer schwangeren Frau. Es ist eine Litjoko der Karaja. Die Frau ist ganz in Weiß dargestellt und mit schwarzen Strichen bemalt.

Die Darstellung einer Schwangeren (Foto: Das Bild stammt von einer Gedenkaktion an die Objekte, die im Nationalmuseum Rio de Janeiro verbrannt sind).

Diese Kulturgüter werden traditionell ausschließlich von Frauen hergestellt, und diese verdienen sich damit heute Geld dazu und haben deswegen einen hohen Status in der Karajágemeinde. Seit einigen Jahren sind diese Puppen, nicht mehr Kinderspielzeug, sondern anerkannte brasilianische Nationalkunst. Die Frauen stellen sie serienmäßig her. Auch innerhalb der Gemeinde haben sich die Puppen so zu einer Art Währung entwickelt. Dadurch hat sich seit der ersten Begegnung zwischen den Karajá und den kolonialen Eroberern das Geschlechterverhältnis dieser Kultur umgedreht. Früher waren es die Männer, die höherrangig gewesen sind, heute bringen die Frauen das Haupteinkommen nach Hause. Bei den Karajá hat dies vor allem verursacht, dass diese neue Männerrolle mit einer neu gewonnen Bedeutungslosigkeit einen Umgang finden muss. In dieser Hinsicht wurde Alkoholismus zu einem Problem, unter dem diese Kultur heutzutage besonders stark leidet. Und trotz dieser traurigen Situation der Karajá komme ich nicht umhin sie für ihre unglaublich schöne Kunst zu bewundern.

Wenn du gerne solche Geschichten über die Kulturen in der Menschheitsgeschichte liest, dann unterstütze doch Miss Jones mit diesem Paypal Link.

Literatur:

Hartmann, Günther Hartmann, Litjoko – Puppen der Karajá, Brasilien, Berlin 1973.

Und zwei kleine Videos dazu: