In den 70er Jahren berichtet James Sullivan, ein Ethnologe, darüber, dass es im Amazonasregenwald, da wo Peru und Brasilien aneinanderstoßen, eine ganz besondere Kultur gibt: die Tikuna. Hier soll es eine Art der Emanzipation der Frau geben, welche dazu führt, dass es in dieser Kultur keine Vergewaltigungen gibt. Und auch wenn ich nicht glaube, dass es tatsächlich keine Vergewaltigungen bei den Tikuna gibt, hat diese Gesellschaft, die heute vor allem für ihren Kampf gegen die Zerstörung des Regenwaldes bekannt ist, doch ein paar interessante kulturelle Eigenheiten entwickelt:
Die Tikuna leben in einem binären Geschlechterprinzip, in dem sich eine klare Geschlechterordnung herausgebildet hat, mit zwei klaren Geschlechterrollen. Diese findet sich in vielen Lebenslagen. Zum Beispiel bei der Anordnung der Schlafplätze. Die Tikuna schlafen in Hängematten, angeblich fertigen sie die bequemsten der Welt. Die Schlafplätze, also die Orte, an denen die Hängematten zum Schlafen aufgehängt werden, sind nach einem festen Muster arrangiert. Dabei gibt es feste Plätze, an denen die Hängematten der einzelnen Familienmitglieder aufgehängt sind und dieses Ordnungsprinzip ist in jedem Tikunahaus gleich. Das gilt auch für die Gästehängematte.
Bei einer Eheschließung gibt es dazu noch einen gesonderten Brauch. Der Brautvater knüpft eine besonders große Hängematte für diesen Anlass. Und zur Eheschließung gehört ein Ritual, bei dem der Brautvater und die anderen älteren Leute der Umgebung das Brautpaar in diese Hängematte legen. Dann werden ihnen Ratschläge für ihren Lebensweg gesagt. Und einer dieser Ratschläge ist, dass der Mann niemals etwas tun solle, was die Frau nicht will. Nach dieser Zeremonie beginnen dann Maskentänze. Tut der Mann in einer Ehe doch etwas, was sie nicht will, so kann sie sich scheiden lassen. Geschiedene Frauen gehen meist zum Elternhaus zurück. Es gibt auch die Möglichkeit, dass Frauen sich entscheiden, gar nicht zu heiraten. Diese Entscheidung wird häufig von geschiedenen Frauen getroffen.
Kinderlose Paar schlafen gemeinsam in einer Hängematte. Sobald sie Kinder haben, bekommt jeder eine eigene. Die Hängematte ist in der Kultur der Tikuna so wichtig, dass sie symbolisch mit beerdigt wird, wenn ein Mensch stirbt. Aber genug von Hängematten. Bei den Tikuna ist Gewalt gegen Frauen durchaus bekannt. Deswegen haben sich zahlreiche soziale Mechanismen herausgebildet, um diese zu verhindern. Die Aufklärung bei der Hochzeit und das Scheidungsrecht sind nur zwei Merkmale davon. Tatsächlich sind Jungs besser angesehen als Mädchen. Dieser Unterschied ist so massiv, dass es Väter gibt, die ihren Nachwuchs umbringen wollen, wenn sie eine Tochter bekommen haben. Deswegen so hat sich der Brauch entwickelt, dass jedes Mädchen einen Beschützer bekommt. Seine Aufgabe es ist, zu verhindern, dass dem Mädchen etwas passiert. In der Regel handelt es sich dabei um den Onkel. Dieser übernimmt noch weitere Funktionen. Zum Beispiel führt er ein Fest an, das veranstaltet wird, sobald das Mädchen, das er beschützt, das erste Mal menstruiert. Auf diesem Fest beginnt die Pubertät des Mädchens, um das zu feiern, gibt es zum Beispiel ein rituelles Bad, ein Ohrloch wird ihr gestochen und es werden Maskentänze veranstaltet. Mann nennt, das einen Initiationsritus (wer einen Eindruck von so einem Fest haben möchte, hier ein Video).
Die Maskentänze gibt es bei vielen Anlässen, so zum Beispiel auch bei dem Fest, das immer zwei Nächte nach dem Vollmond gefeiert wird. Dabei kostümieren sich die Tikuna. Und zwar alle, die möchten, auch Kinder. Aber insgesamt nur 3 % derjenigen, die sich real an diesen Verkleidungsaktionen beteiligen sind, weiblich. Es ist den Frauen also erlaubt, sich zu beteiligen, aber es ist nicht gerade beliebt, das auch zu tun. Die Masken sind oftmals grotesk und werden von dem*r Träger*in selber, nach dem eigenen Geschmack gefertigt. Heute finden sich auf diesen Kunstwerken deswegen auch moderne Motive, wie z.B. Flugzeuge.
Die Maskenträger*innen tanzen bei diesen Feiern selbst ausgedachte Tänze und singen dazu selbst komponierte Lieder. Diese drehen sich oftmals um das Thema erwachsen werden, vor allem auch um die weibliche Pubertät. Die ganze Kultur ist in ihrem Glauben tief durchzogen mit mystischen Figuren, es gibt sogar einen Schmetterlings Dämon. Das die Masken oftmals Skurril verzehrte Gesichter zeigen ist also kein Wunder. Auch gehören zu den Kostümen gelegentlich extrem überzogen dargestellte Genitalien. Die in den Tänzen gezeigten Geschichten funktionieren fast wie eine Form der Sexualaufklärung. Die Maskentänzer nehmen dabei zum Beispiel wie in einem Theaterstück die Rolle eines sexuellen Gewalttäters ein.
Im Rahmen der Tikuna-Mythologie, gibt es eine Vielzahl an Geschichten, die Probleme von Frauen thematisieren. Zum Beispiel die Geschichte, dass eine Mutter ihrer Tochter bei einer Abtreibung hilft, da der Vater gewalttätig ist. Das gilt dadurch als legitim und zeigt den Männern auf, dass sie sich nicht gewalttätig verhalten sollen. Und noch etwas hat sich in dieser Kultur herausgebildet: Auch Homosexualität wird nicht verachtet, sondern ist Bestandteil des Spiels von jugendlichen Männern. Es gibt erwachsene schwule Paare in dieser Kultur, sie werden als twuenangi bezeichnet und sind normaler Bestandteil dieser Gesellschaft.
Und auch bei den Männern gibt es Rituale, die zum Erwachsen werden gehören. Natürlich gibt es dabei ebenfalls Maskentänze. In diesem Fall sind diese an eine Art Ahnenkult gekoppelt. Bei diesem Brauch identifizieren sich die Männer mit ihren mythologischen Vorfahren und spielen auf Blasinstrumenten, welche die Stimmen der Vorfahren darstellen sollen. Bei diesem Ritual, das Männern vorbehalten ist, tragen die Teilnehmer wiederum kreative und selbst hergestellte Masken und es sind auch nur Männer, die bestimmte Musikinstrumente spielen dürfen.
Zusammengefasst kann man sagen. Diese Kultur baut ihre Gesellschaft auf Aufklärung auf. Zudem ist sie, je näher man hinsieht, um so filigraner strukturiert. Oftmals hängt diese Struktur mit Gewaltprävention zusammen. Es ist eine Kultur, die viel feiert und bei jedem Fest sind aufklärende Maskentänze Bestandteil. Dadurch ist eine Gesellschaft entstanden, welche acht aufeinander gibt, gerade in Bezug auf Missbrauch und Gewalt. Aber: dass es gar keinen sexuellen Missbrauch gibt, ist unwahrscheinlich. Weil, wenn es ihn nicht gäbe, müsste er ja nicht in dieser ausgiebigen Art thematisiert werden. Aber da es Aufklärung gibt, leben die Frauen in dieser Gesellschaft sehr sicher.
Literatur:
Daniel R. Gross: Peoples ans Cultures of Native South America. New York 1973.
Curt Nimuendajú: the Tukuna. In: University of California publications in American archaeology and ethnology Bd. XLV. Los Angeles 1952.
Annemarie Seilr-Baldinger: Hängematten-Kunst: textile Ausdruckformen bei Yaguna- und Ticuna-Indiandern Nordwest-Amazoniens. In: Bericht über des Baseler Museum für Völkerkunde und Schweizerische Museum für Volkskunde für das Jahr 1979. Basel 1981.
Julian H. Steward und Louis C. Faron: Native Peoples of South America. London 1959.
James Lamkin Sullivan: The impact of education on Ticuna indian culture. An historical and ethographic field study – Disertation North Textas State University, Denton, 1970.