Es gibt Kulturen, welche ganz faszinierende Ideen haben oder hatten. Eine dieser Kulturen ist die Marajoarakultur. Hier wurde archäologisch ein Ritual festgestellt, das vmtl. für Fruchtbarkeit sorgen sollte, und bei dem die Geschlechtergrenzen auf ganz besondere Weise vermischt wurden:

Diese Keramik war im Nationalmuseum von Rio de Janeiro ausgestellt und ist vmtl. verbrannt. Das Bild stammt von einer Gedenkaktion von Wikimedia, die an dieses Museum erinnert (Bild: Dornicke (CC BY-SA 4.0)).
Die Marajoarakultur stammt von der Amazonas Insel Marajó. Getöpferte Frauenfiguren, sind bei dieser Kultur von besonderer Bedeutung. Zwar verschwanden die Marajoara, genauso plötzlich wie die Europäer gleichzeitig in Südamerika auftauchten, doch sie hinterließen uns diese einzigartigen Figuren. Deutlich zu sehen ist: Die Vulva der Frau tritt aus der Kleidung hervor und ist besonders herausgearbeitet. Dabei handelt es sich um ein häufiges Phänomen in der Marajoarakultur. Aber auch der Phallus hatte eine besondere Bedeutung. Wer genau hinsieht bemerkt, dass diese Darstellung einer Frau, die Grundform eines Penisses mit Hoden hat. Diese Symbolsprache entstand ab etwa 400 n. Chr. im Zuge zweiter Phänomene: Zum einen machten wirtschaftliche Veränderungen die Menschen verstärkt von der Landwirtschaft abhängig. Zum anderen gewann die Frau in der Gesellschaft an Bedeutung.

Der Grundriss einer solchen Figur der Marajoara (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Die Vermischung der Geschlechter ist bei diesen Figuren ist sehr auffällig. Bei 75 % aller bekannten Frauendarstellungen ist die äußere Form wie ein Phallus dargestellt. Dieser kann verschiedene Erektions- und Schlaffheitsgerade haben. In all diesen Darstellungen wird der Kopf wie die Eichel positioniert. Es gibt die Überlegung, dass diese Körper-Phallus-Symbiose einem vorkolonialen Körperverständnis der Amazonas Kulturen entspricht. Einige dieser Phallus-Mensch-Figuren waren von innen hohl und mit Saatgut gefüllt. Es handelte sich um Rasseln. Um diese zum Klingen zu bringen, war es notwendig sie in einer Form zu schütteln, die an Selbstbefriedigung erinnert. Es wird angenommen, dass solche Musikinstrumente in Fruchtbarkeitsritualen verwendet wurden. Funde zeigen, dass die Frauendarstellungen gezielt geköpft wurden, bzw. die Eichel abgeschlagen wurde. Dafür wurden sie mit einer Sollbruchstelle getöpfert. Dadurch gelangte das Saatgut symbolisch ins Freie und konnte wie Sperma verspritzt werden.

Eine weitere Rassel aus der Marajoarakultur (Bild: Dornicke (CC BY-SA 4.0)).
Diese Rasseln sind ein tolles Beispiel dafür, dass es Kulturen gibt, die Geschlechter in ihre Rituale eingebaut haben. Interessant ist hier das Auftreten von weiblichen wie männlichen Merkmalen in ein und demselben Objekt, welches gleichzeitig offenbar für Fruchtbarkeit steht. Offen bleibt: entsteht Fruchtbarkeit durch die Vermischung der Geschlechter? Oder aber hatten die Marajoara ein Menschenbild, bei dem beispielsweise die Köpfe der Frauen ein fruchtbarer Ort gewesen sind? Evtl. aber, haben die Marajoara Körper generell als Analogie auf den Phallus gedacht, oder aber es war ganz anders. Vielleicht war es ja auch einfach Humor. Ein Hinweis könnte die labyrinthartige Bemalung sein. Es ist von anderen Amazonas Kulturen der Region bekannt, dass Labyrinthe für die Welt zwischen der Menschenwelt und der Welt der Geistwesen steht. Haben wir es hier also evtl. mit einer mythologischen Figur zu tun? Oder wurde vielleicht sogar der Orgasmus also Phänomen dieser Zwischenwelt gesehen? Der Knackpunkt ist, Körperwahrnehmungen unterscheiden sich zwischen Kulturen genauso wie zum Beispiel Schönheitsideale und eine Vielzahl an Interpretationen ist von daher an dieser Stelle möglich. Was uns bleibt ist, darüber zu staunen, auf was für interessante Ideen die verschiedensten Menschengruppen im Laufe der Geschichte gekommen sind.
Literatur:
Cristiana Baretto und Erendira Oliveira, Para além de Potes e Panelas: cerâmica e ritual na Amazônia antiga. In: Habitus, 2016.
John Robb, The body in history: Europe from the Paleolitic to the future, New York 2013.
Mir, einem Sammler von Rasseln, fehlen solche getöpferte Phalli
Pingback: Männerbilder in der Archäologie – Jungs, ihr könnt mehr als das! | Miss Jones
Pingback: Museen und die Darstellung von Geschlechterstereotypen | Miss Jones
Pingback: Die Miss Jones Genderwochen sind eröffnet | Miss Jones