Die Entdeckung der ältesten Speere der Welt

Das Braunkohlerevier Helmstedt. Seit dem 18. Jahrhundert wird hier Kohle abgebaut, dann rücken die Tagebaubagger an. Ein ganz normaler Tagebau, doch plötzlich geht die Deutsch-Deutsche Grenze quer durch das riesige Loch. Kaum ist Deutschland wiedervereint, geschieht hier wieder unerwartetes. Ein archäologischer Fund – der vielleicht bedeutendste Fund der Altsteinzeitforschung. Heute möchte ich euch eine atemberaubende Geschichte erzählen:

Ein Mann klettert zwischen riesigen Baggern umher

Es ist eine 27 km2 große und 100 m tiefe Narbe in der Landschaft, die Teil der Deutsch-Deutschen Grenze geworden ist. Ein Tagebau, der unter den Augen der Grenzsoldaten  betrieben wird und in dem die Braunkohlebagger ab 1975 zwischen Ost und West hin und her fahren dürfen.

Modell eines Braukohlebaggers im Museum neben dem ehemaligen Tagebau.

Ab 1982 passiert unter den Augen der Grenzer, die dies eifrig bewachen, täglich etwas Neues: Ein Mann klettert im Tagebau herum. Sein Name: Hartmut Thieme, sein Beruf: Archäologe. Akribisch dokumentiert er, welche Spuren der Archäologie durch Zufall freigelegt wurden. Manchmal muss er an den Abbruchkanten entlang klettern. In der Nähe Bagger, die so groß sind, dass sie ihn, ohne, dass es jemand merken würde, einfach gleich mit wegbaggern könnten. Das klingt nicht einfach nur abenteuerlich – Thieme begibt sich über 30 Jahre bei Wind und Wetter in Lebensgefahr. Er findet Funde aus den verschiedensten Epochen. Dann fiel die Mauer und der Tagebau war plötzlich keine streng bewachte Grenze mehr.

Die Altsteinzeit ist nicht leicht zu finden

Für Thieme bedeutet der Fall der Grenze etwas anderes. Er hat bislang keine altsteinzeitlichen Funde gemacht. Bei der Bodentiefe ist das aber unwahrscheinlich. Schließlich werden Schichten abgetragen, die 60 Mio. Jahre zurückreichen. Doch nach der Wende kann er endlich Dietrich Mania einladen, um sich beraten zu lassen. Mania, Professor in Jena, hat zu Bilzingsleben geforscht,

Hartmut Thieme (Links) bei der Bergung des Elefantenstoßzahns mit einem Teammitglied (Foto: Peter Pfarr, © Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege).

dem wichtigsten Fundplatz der Altsteinzeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, er ist der Experte für die Altsteinzeit. Mania kommt und bildet Thieme fort. Die Männer stellen fest: Hier war in der Eiszeit ein See – und: Die vielversprechenden Schichten sind überlagert mit einer Schicht aus Kalk. Ein Riesen-Glück, denn durch diesen Schutz ist ein guter Erhalt von Fundstücken wahrscheinlich.1992 gibt es dann einen ersten Fund aus dem Paläolithikum: ein Elefantenstoßzahn, den Thieme in Windeseile dokumentiert, bevor der Bagger wieder kommt. Bald darauf findet Thiemes Team erste Steinwerkzeuge. Es ist der Beweis: Menschen waren hier. Nur wenige Tage bleiben, um diese Fundstelle zu dokumentieren. Es ist aufregend, denn was würde sich hier in Zukunft noch finden?

Das ist sensationell! Was ist das?

Es dauert nicht lange und Thiemes Team beobachtet etwas vollständig unerwartetes: Kleine aus Holz gearbeitete Gegenstände – das ist sensationell, denn dass sich Holz über eine so lange Zeit erhält ist extrem unwahrscheinlich. Man nennt sie Klemmschäfte. Vielleicht waren es einmal Werkzeuggriffe – wirklich wissen tut man das allerdings nicht.

Das sind Klemmschäfte. Es sind Hölzer mit einer Aussparung an einer Seite, in der vmtl. ein Steinwerkzeug eingearbeitet wurde.

Die Funde zeigen: die Technik vor 300.000 Jahren war viel ausgereifter, als je jemand vermutet hätte. Niemals zuvor konnte so etwas beobachtet werden. Thieme verhandelt und bekommt drei Monate Aufschub für weitere Untersuchungen. 150 m2 werden untersucht, 1.000 Gegenstände geborgen. Es ist zum Staunen. Holzwerkzeuge, Steinwerkzeuge und ein ganzer Waldelefant können geborgen werden. Aber das sollte erst der Anfang sein.

Die Ahnung davon, dass dieser Ort besonders ist

Als der Bagger wieder rollt, kraxelt Thieme weiter jeden Tag in den Tagebau. Beobachtet Spuren, dokumentiert, was er sieht. 1994 bewegt sich der Bagger dann so, dass die Schichten der Eiszeit direkt an der Oberfläche liegen. Innerhalb kürzester Zeit findet er Tierknochen und wieder Holz.

Spuren aus denen man die Lebenswelt in der Eiszeit zusammensetzen kann wie in einer Collage (Darstellung aus dem Museum).

Es steht fest, über 10-20.000 Jahre lang war hier ein Paradies der Eiszeit, welches viele Geschichten dieser Epoche erlebt hat. Die Spuren davon liegen vor den Augen der Ausgräber*innen. Elefantenknochen, Wasserbüffelknochen, aber auch Kleintierknochen und sogar Käferflügel können gefunden werden. Thieme bekommt die Erlaubnis, wieder ein paar Wochen zu forschen.

„Eine Lanze, es kann nur eine Lanze sein“

Donnerstag, 20.10.1994, es ist Mittags, als Ausgräber Wolfgang Mertens etwas bemerkt. Er informiert sofort seinen Chef, mit 9 fast ehrfurchtsvoll geflüsterten Worten: „Herr Thieme, hier ist ein Holz in meinem Quadrat“. Allen ist sofort klar, das ist etwas ganz besonders. Mertens legt den Fund vorsichtig weiter frei: „Eine Lanze, es kann nur eine Lanze sein“ ist sein Gedanke. Immer weiter gräbt er und dann ist plötzlich Schluss.

Man hatte in diesem riesigen Loch die Nadel im Heuhaufen gefunden. (Der Tagebau heute)

Zu kurz für eine Lanze, 78 cm. Es ist sensationell – ein Werkzeug oder eine Waffe der Steinzeit, die man bislang nicht kannte. Aber: Was ist das? Es dämmert Hartmut Thieme: hier liegt etwas Einzigartiges verborgen. Es ist 22:00 als er mit seinem Kollegen Werner Schoch an der Haustür des Oberingenieurs Cornelius klingelt. Er schildert den Fund, bittet eindringlich um Aufschub. Am nächsten Tag kommt eine Kommission der BKB in den Tagebau, um alles zu begutachten.

Gleichzeitig im Tagebau

Der Fund muss 24/7 überwacht werden. Holz ist filigran und kann zerfallen, wenn man es nicht die ganze Zeit feucht hält. Im Niedersächsischen Landesamt wird eilig ein Blechkasten angefertigt. Das Holz im Blog geborgen und in die Blechkiste umgelagert. Ein unscheinbarer Lieferwagen und ein Sicherheitswagen fahren schließlich im

Schöningen Speer VII im Sediment (Bild: Peter Pfarr CC BY-SA 3.0 DE) .

Schritttempo durch Niedersachsen nach Hannover. Nicht zu schnell, damit das Holz nicht durch das wackeln des Fahrzeugs beschädigt wird und nicht zu langsam, damit es schnell unter Laborbedingungen behandelt werden kann. Es ist der in diesem Moment vielleicht wertvollste archäologische Fund der Welt. Von alledem bekommt Mertens schon nichts mehr mit. Er konzentriert sich bereits wieder auf die Ausgrabung. Und plötzlich: wieder Holz. Vielleicht noch so ein Ding? Er gräbt weiter. Vorsichtig. Das Holz wird länger und länger. Dieses Mal ist nicht nach 78 cm Schluss. Ein 2,25 m langes Holzobjekt legt Mertens frei. Ein ganzer Speer. Es ist der Fund des ersten Schöninger Speeres. Den ältesten bekannten Speeren der Menschheitsgeschichte. Ein Fund, der zeigt: die Jägerkulturen vor 300.000 Jahren hatten eine eigene Form von Higtech entwickelt. Es ist die archäologische Sensation des Jahrhunderts. Noch 4 weitere Speere wird alleine Mertens an diesem Fundplatz in der Zukunft ausgraben. Dazwischen die Knochen der Pferde, die mit den Speeren gejagt wurden.

Den wichtigsten Fundplatz der Welt einfach wegbaggern?

Unter dessen versucht sich Klaus-Christan Cornelius, Oberingeneur der BKB, dafür einzusetzen, diesen Bereich der Abbruchkante einfach stehenzulassen. Das würde gut 200.000 DM kosten. Aus Sicht des Unternehmens weggeworfenes Geld. Er rechnet das ganze schließlich in eine andere Währung um. 2017 soll das Braunkohlekraftwerk, ohnehin geschlossen werden. Die Menge an Kohle, die unter dem 60 x 60 m breiten Landstrich liegt, würde den Kohlebedarf von etwa 1,5 Tagen Kraftwerksbetrieb decken. Cornelius rechnet seinem Arbeitgeber also vor, dass es kaum einen Unterschied macht, ob das Kraftwerk einen Tag früher oder später abgeschaltet wird. So wird der Fundplatz für die Forschung erhalten. Cornelius sagt dazu im Nachhinein, dass er damals die Ausführungen von Thieme zwar nicht ganz begriffen hat, nun ist ihm aber klar, dass er den möglicherweise wichtigsten archäologischen Fundplatz der Welt vor der Zerstörung gerettet hat.

Die Ausgrabung an der Abbruchkante heute.

Heute ist der Tagebau geschlossen, die Bagger sind weg. Das Loch ist geblieben und wuchert langsam zu. Im Laufe der nächsten 100 Jahre wird alles hier mit Wasser volllaufen und ein See entstehen. Aber bis heute wird diese eine Stelle, die stehen gelassen wurde, untersucht. Sie gibt immer neue Informationen über die Welt vor 300.000 Jahren preis. Und am Rande der Abbruchkante, da wo in 100 Jahren ein Seeufer sein wird, steht ein Museum, in dem ihr die sensationellen Funde besuchen könnt.

Anmerkung: Ich hatte das Vergnügen, mit dem Landesarchäologen Henning Haßmann persönlich den Fundplatz und das Museum zu erkunden. Dabei habe ich weitere Informationen erhalten, welche (noch) nicht in der Literatur zu finden sind. Auch mit Jordi Serangeli führte ich einige Gespräche. Für die Informationen, die ich auf diesem Wege erhalten habe und den tollen Tag möchte ich mich noch ganz herzlich bedanken.

Hinzuzufügen ist ausserdem, das ich der braunkohleverstromung durchaus kritisch gegenüber stehe, dazu werde ich aber einen gesonderten Artikel verfassen.

Literatur:

Utz Böhner & Thomas Terberger: Schöningen – Ein altsteinzeitlicher Fundplatz von Weltrang. In: 300.000 Jahre Spitzentechnik – Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die ältesten Speere der Menschheit. Thomas Terberger, Utz Böhner, Felix Hillgruber & Andreas Kotula (Hrsg.), Darmstadt 2018.

Kurt Felix Hillgruber & Thomas Terberger: Die Entdeckung der Speere
Das Glück der Tüchtigen. In: 300.000 Jahre Spitzentechnik – Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die ältesten Speere der Menschheit. Thomas Terberger, Utz Böhner, Felix Hillgruber & Andreas Kotula (Hrsg.), Darmstadt 2018.

Klaus-Christian Cornelius: Nächtlicher Besuch – Die Entdeckung der Speere
aus Sicht eines Tagebau-Oberingenieurs. In: 300.000 Jahre Spitzentechnik – Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die ältesten Speere der Menschheit. Thomas Terberger, Utz Böhner, Felix Hillgruber & Andreas Kotula (Hrsg.), Darmstadt 2018.

Wolfgang Mertens: Kein Tag wie jeder andere – Erinnerungen an
die Entdeckung der Schöninger Speere. In: 300.000 Jahre Spitzentechnik – Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die ältesten Speere der Menschheit. Thomas Terberger, Utz Böhner, Felix Hillgruber & Andreas Kotula (Hrsg.), Darmstadt 2018.

Henning Haßmann & Jordi Serangeli: Der Tagebau Schöningen – eine Fundstelle von Weltrang an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. In: Blickpunkt Archäologie 2020/3.

4 Gedanken zu „Die Entdeckung der ältesten Speere der Welt

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