Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Ein paar Eltern ziehen mit ihren Kindern umher. Und es ist an diesem Tag nicht so leise, wie sonst in Museen. Gott sei Dank. Ich verstehe es nicht, warum oft eine angespannte Stille in Museen herrscht. Wenn ich doch selbst so oft quietschend, weinend oder lachend vor Freude vor den Spuren der Menschheitsgeschichte stehe, mit Freunden zum Fachsimpeln und zum Spaß haben dort bin. Immerhin erforschen wir das Leben in der Archäologie.
Ein Junge steht da, gelangweilt, die Mutter zieht ihm am Arm weiter
Platz für mich. Die Schädelreste von Bilzingsleben. Ich liebe diese Knochen – und höre die Geräusche des Museums plötzlich nicht mehr. Herzklopfen, mein Atem stockt. Knochenreste mehrerer Schädel. Klein und mit abgestoßen Rändern. Hier ein Stück Schädelnaht, dort ein paar Teile mehr.
Von Nahem zu erkennen: feine Ritzspuren. Ein Bogen einer Augenbraue eines Homo erectus, der vor 370.000 Jahren da lebte, wo heute Mitteldeutschland liegt. Ein Rest eines Menschen, der vor so langer Zeit geliebt, gelebt und gelacht hat.
Was haben diese Augen gesehen?
Steppe. Eine weite Steppe und eine Natur, die ganz anders ist, als die gleiche Region in unserer Zeit. Nashörner, Waldelefanten, Bären, Wildkatzen. Ein manchmal gefährliches Leben. Doch ein Leben in einer Gruppe, die sich zu helfen weis. Die Kinder, toben herum, doch manchmal schauen sie auch ganz aufmerksam zu, lernen wie man Werkzeuge baut.
Mit einem harten Schlagstein wird ein Stein zu einem Choppertool zurechtgemacht. Es ist die Zeit der Oldowan Kultur. Doch diese Gruppe kann viel mehr – Es sind Expert*innen für ihren Lebensraum. Sie retuschieren nicht nur ihre Klingen, sie bauen sich spezialisiertes Werkzeug aus Nashorn und Elefantenknochen. Und sie zählen. Hier an diesem Siedlungsplatz wurde die vmtl. älteste Strichliste der Welt gefunden. Mit 28 Strichen.
Wie hat man damals gelebt?
Es sind einfache Behausungen, die am Flussufer aufgeschlagen wurden. Aus Ästen und Pflanzen gebaut. Gleich mehrere. Die Menschen leben hier in einer Gruppe zusammen. Sie kochen und essen an einer Feuerstelle und naschen dazu Süßkirschen. Sie planen den nächsten Tag. Wer kommt mit auf die Jagt?
Wer übernimmt dabei welche Aufgabe? Wer kümmert sich um das Feuerholz? Oder gibt es doch lieber Fisch? Die Steppe ist voller Tiere. Und der Fluss voller Fische. Eines Tages kommt ein gut 1 m langer Wels auf den Speiseplan. Wenn die Menschen sterben, werden sie bei dieser kleinen urzeitlichen Siedlung, nahe des heutigen Bilzingsleben beigesetzt. Die Siedlung existiert einige Zeit, und später wird hier immer wieder gesiedelt. Doch dann wird diese ganze Zeit langsam vergessen. Erst die archäologische Forschung entdeckt ihn wieder. Ab den 70er Jahren wird hier strukturiert erforscht und auch dieser Augenbrauenbogen, durch den ich für einen Moment scheinbar in die Vergangenheit gesehen habe, kommt an das Tageslicht.
Was wurde hier genau gefunden?
Der Fundplatz Bilzingsleben ist ein Aushängeschild der archäologischen Forschung der DDR gewesen und bis heute ist er von höchster Relevanz. Man hat einen Siedlungsplatz freigelegt, Menschenreste in der Umgebung und Tierknochen. Tausende Tierknochen, die einen Einblick geben, in das Leben zu Zeit des Homo erectus. Sie zeigen die Biodiversität dieser Zeit. Die vielen Tiere, mit denen sich der Homo erectus seinen Lebensraum teilte.
Es war kein grunzender Affe, sondern ein kluges Wesen, das diese Siedlung baute und Werkzeuge aus verschiedensten Materialien, spezialisiert für die verschiedensten Zwecke. Erforscht wurde der Fundplatz maßgeblich von Dietrich Mania. Ein Archäologe, vor dem man nur den Hut ziehen kann. Er hat ein beachtliches Lebenswerk erschaffen und hunderte Aufsätze über die Knochenfunde von Bilzingsleben veröffentlicht. Mania ist vmtl. einer der besten Archäologen überhaupt. Die Erforschung der Funde strotzt vor Genauigkeit und Akribie. Bis auf eine Ausnahme:
Nein, in Bilzingsleben lebten keine Kannibalen
Es sind Teile von 37 Schädeln, die gefunden wurden. Sie alle sind kleinteilig und haben Spuren, die an Ritzspuren erinnern. Die Frage war also, warum sind die Schädelteile so kaputt? Eine Erklärung wäre, dass sie 370.000 Jahre alt sind, eine Zeit in der viel passieren kann. Das war auch Mania klar. Er stellte fest: Die Wipper hat ihren Lauf mehrfach verändert und dabei kam es dazu, dass die Knochen jahrtausendelang im Flussbett lagen und durcheinander gewirbelt wurden. Vmtl. sind die Schäden darauf zurückzuführen. Doch 1990 schreibt er dann auf einmal, es seinen die Schnittspuren von Kannibalen.
Vielleicht war diese Aussage dem Zeitgeist der Nachwendezeit geschuldet – klar ist: Wenige Jahre später nimmt Jörg Orschiedt diese Knochen unter das REM. Ein Kollege, der für seine unfassbar ausgeprägte Genauigkeit bekannt ist. Die Feststellung: Die Ritzspuren sind allesamt taphonomisch. Das heißt, es sind Spuren, welche im Nachhinein entstanden sind. Das können chemische Bodenprozesse sein, genauso, wie jemand, der bei der Ausgrabung auf den Knochen drauf getrampelt ist, oder eben der Fluss, der die Knochen durcheinander gewirbelt hat. Es war also kein Homo erectus, sondern der Zahn der Zeit, der an diesen Schädelknochen genagt hat.
Ist ja nicht so schlimm, jeder kann mal irren!
Ja! Das stimmt! Und angesichts der sensationellen Arbeit Manias, ist dieser eine Nebensatz von ihm auch eigentlich nicht weiter erwähnenswert. Aber leider bleibt sowas oft hängen. Die Vorstellung von Vormenschen ist oft durchsetzt von seltsamen Stereotypen und Kannibalismus ist ein Teil davon. Die allermeisten Kannibalismusfunde sind eben solche taphonomischen Spuren und die Interpretation konnte widerlegt werden. Das war Thema meiner Masterarbeit.
Immer wieder habe ich ethnologische Arbeiten gefunden, die Cherrypicking betreiben und einen solchen Nebensatz nehmen, als Beleg. Dadurch entstehen schlecht gemachte archäologische Vergleiche in ihrer Arbeit. Sie finden so einen scheinbaren Beleg, für ihre Idee. Eine Art stille Post ist so in Bezug auf das Thema Kannibalen mehrfach entstanden. Das wurde immer wieder genutzt, um rassistische Ideen zu rechtfertigen. Da kann Mania seines Zeichens natürlich nichts für. Aber ich würde mir eines Wünschen:
Wir sollten laut sagen, „ich lag falsch“, wenn dem so ist
Denn jeder irrt. Auch ein so großartiger Forscher wie Mania. Gerade in der Erforschung des Paläolithikums (Altsteinzeit). Diese Zeit ist schon so lange her, jeder Fund kann unser Weltbild auf den Kopf stellen – denn es gibt nicht so viele Dinge, die eine so lange Zeit überstehen. Wir haben also nur wenige Funde um die Zeit des Homo erectus, oder noch ältere Zeiten zu erforschen. Deshalb ist jeder einzelne Fund dieser Zeit bedeutend. Um so wichtiger ist der Fundplatz Bilzingsleben.
In der Fachwelt ist es deswegen auch normal, wenn man mit seiner Annahme widerlegt wird, wir wissen so wenig, dass einzelne Neufunde ganz viele Annahmen widerlegen können. Leider wird das aber nach außen nicht ausreichend kommuniziert. Und die Art, wie Journale heute geschrieben werden, fokussiert sich auf die Erfolge der Forschung, nicht auf die Misserfolge. Es geht immer auch darum, gut auszusehen. Fehler haben da wenig platzt, und in der Öffentlichkeit fehlt dieser Teil der Archäologie fast ganz. Dabei brauchen wir gerade die Fehler, da sich die Forschung an sich durch die Fehleranalyse verbessert.
Und all diese Gedanken schießen durch meinen Kopf, Aug‘ in Augenhöhle mit einem Homo erectus, als mir schließlich ein Mann am Ärmel zieht, und mich fragt, ob ich vor der Vitrine festgewachsen sei. „Ich wäre es gerne“, „na können denn alte Kochen so toll sein?“, fragt er, „noch toller, noch unendlich viel toller!“ antworte ich.
Literatur:
Anmerkung: Möglicherweise ist die Literaturliste nicht komplett, da ich diesen Gedankengang ja in dem Museum hatte, mir ist schlechtweg entfallen aus welchem Aufsatz genau ich welche Information entnommen habe.
D. Mania, Die altpaläolothischen Travetinfunde von Bilzingsleben Kr. Artern. Ethnogr.-Arch. Zeitschr. 18, 1977, 1–24.
D. Mania, A 16 Bilzingsleben – Kr.Artern (Bez. Halle). In: J. Herrmann (Hrsg.), Archäologie in der Deutschen Demokratischen Republik 2 (Leipzig 1989) 370–374.
D. Mania, Die ältesten Spuren des Urmenschen im eiszeitlichen Altpaläolithikum. In: J. Herr-mann (Hrsg.), Archäologie in der Deutschen Demokratischen Republik 1 (Jena 1989) 24–35.
D. Mania, Auf den Spuren des Urmenschen – Die Funde von Bilzingsleben (Stuttgart 1990).
J. Orschiedt, Manipulationen an menschlichen Skelettresten. Taphonomische Prozesse, Sekundärbestattungen oder Kannibalismus. Urgesch. Materialh. 13 (Tübingen 1999).
I. Tattersall, Neandertaler – Der Streit um unsere Ahnen (Basel 1999).
H. Ullrich, Urmensch, Altmensch und eisenzeitlicher Jetztmensch. In: J. Herrmann (Hrsg.), Ar-chäologie in der Deutschen Demokratischen Republik 1 (Jena 1989) 48–54.
https://www.das-ist-thueringen.de/kultur-genuss/ein-land-voller-zeitalter/bilzingsleben/
http://www.steinrinne-bilzingsleben.com/index.php?article_id=1
https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/bilzingsleben/8508
https://st.museum-digital.de/object/11003
https://www.researchgate.net/publication/260797086_Homo_erectus_von_Bilzingsleben_seine_Kultur_und_Umwelt
Danke! Ich bin sehr glücklich, dass ich dich auf dieser Reise begleiten durfte.
Mehr als die Kratzer auf den Schädeln beschäftigen mich allerdings die Ritzungen auf der Strichliste. 28. Ein Monat? Wie unwahrscheinlich ist es, dass ein intelligentes Wesen, Mondphasen und den Wandel der Jahreszeiten bemerkt? Sie müssen das Wissen um Rhythmen gehabt haben, darüber, wo es wann welche Nahrung gibt und wann es Zeit ist, Vorräte für den Winter anzulegen. Andernfalls hätten sie kaum überlebt. Ist es so unwahrscheinlich, dass sie die Rhythmen nicht nur bemerkt, sondern auch gemessen haben? Dass sie ihre Messungen aufzeichneten, um nichts zu vergessen und sich der Aufzeichnungen bedienten, um Wissen weiterzugeben? Kurz: Könnte es sein, dass es sich nicht nur um die älteste Strichliste, sondern um das älteste Fragment eines Kalenders handelt?
Ja, das ist wilde Spekulation und wird sich nie in gesichertes Wissen überführen lassen. Aber in einem ganz unhistorischen, unwissenschaftlichen Sinn weitet es trotzdem das Denken. Deshalb noch mal Danke, dass ich dabei sein durfte!
Naja, ich glaube am Ende kann man nur sagen, dass es 28 Striche sind.
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