2004, der Verein Kluterthöhle e.V. wird beauftragt, das in den 80ern entdeckte Blätterloch in der Nähe von Hagen (Westf.) zu erkunden und hydrologische Untersuchungen zu machen. Doch anstelle eines Wasserlaufes finden sie Menschenkochen. Ein Mord? Schnell liegen die Knochen in der Gerichtsmedizin. Doch der leitende Historiker Ralf Blank erkennt: Diese Knochen sind älter – sehr viel älter!
Ein Fund aus einer lang vergangenen Zeit
Die Knochen werden analysiert. Unabhängig voneinander von der Universität Kiel und in Oxford. Und als die Daten schließlich vorliegen, müssen sich auch die Archäologen erst einmal setzen. Das vermeintliche Mordopfer lebte vor 9390 +/- 35 Jahren, also in der Mittelsteinzeit. Und das ist ein Zeitraum, zu dem es auch in der Forschung noch viele offene Fragen gibt. Jeder Fundplatz erweitert unser Bild.
Das es in der Blätterhöhle also einen solchen archäologischen Fundplatz gibt, ist eine fachliche Sensation. Deswegen wird die Höhle im „Weißenstein“ einem Kalksteinmassiv an der Lenne auch 2006 für die Öffentlichkeit gesperrt. Es handelt sich um einen geschlossenen Fund. Das ist ein Fundort, der nach seiner Nutzung nicht mehr von anderen Menschen verändert wurde – eine Art Sechser im Lotto für die Archäologie. Deswegen gehört dieser Fundplatz heute ganz der Forschung.
Was wurde dort gefunden?
Im Grunde genommen wird dort immer noch gefunden, denn hier wird mit dem Pinsel in Millimeterarbeit gegraben und eine solche Forschungsgrabung dauert Dekaden. Aber man weiß heute: Es gab einmal einen Abri, das ist ein Felsüberhang. Unter solchen Felsüberhängen haben Menschen der Mittelsteinzeit eine sichere Zuflucht für ihre Rast gefunden.
Das Felsdach ist aber irgendwann heruntergefallen. Deswegen blieben die Nutzungsspuren im Boden unberührt und der Rastplatz kann heute archäologisch untersucht werden – es hat sich gezeigt, auch hier wurde mindestens eine Bestattung aufgefunden. Auf dem Rastplatz gab es den Eingang zu der Blätterhöhle. Ein Schacht, der 60×75 cm im Durchmesser ist, führt nach unten in die Dunkelheit und dann eröffnet sich eine Höhle. Kurz hinter der Mündung des Schachtes wurden die ersten Menschenreste gefunden. Die Höhle ist im Laufe der Jahrtausende zusedimentiert. Erdmaterial ist in die Höhle hineingerieselt und hat die Spuren der Menschen, die sich dort bewegt haben, verdeckt. Hier liegt ein Bestattungsplatz und dieser wird in Feinarbeit ausgegraben.
2007 wurden hier erstmals 200 menschliche Einzelteile gefunden, die 7 Individuen zugeordnet werden konnten. Die Knochen waren in einem sehr guten Zustand. Das ist darauf zurückzuführen, dass es sich um eine Kalkhöhle handelt – ein chemisches Milieu, in dem Knochen langsamer vergehen.
Und wie sah so eine mittelsteinzeitliche Höhlenbestattung aus?
Das ist eine gute Frage. Die Knochen wurden nicht im anatomischen Verband gefunden, waren also durcheinandergewirbelt. Das heißt aber nicht, dass die Menschen damals nicht ordentlich niedergelegt wurden. Eine Höhle ist ein komplexes Forschungsfeld. Es gibt Rutschungen in den Sedimenten (Bodenschichten). Tiere nisten sich ein und spielen z.B. mit Kleinknochen.
Nachdem die Befunde zusedimentiert sind, haben sie Gänge durch den jetzt unterirdischen Fundplatz gebuddelt und alles noch ein bisschen weiter durcheinandergebracht. Zahlreiche Tierschädel, wie beispielsweise von Dachsen, erzählen davon.
Aber: Es wurden Kleinknochen wie von der Mittelhand eines Menschen gefunden. Das spricht dafür, dass die Menschen hier mit dem ganzen Körper beigesetzt wurden, den kleine Knochen gehen als erstes verloren, wenn eine Sekundärbestattung vorliegt. Das ist eine Bestattung, bei der ein Körper mindestens einmal von einem Grab in ein anderes verbracht wird. Man konnte nach der ersten Grabung 2007 anhand der Knochen rekonstruieren, dass hier ein jüngeres und ein älteres Kind, sowie eine junge Frau, ein erwachsener Mann und eine erwachsene Frau ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Die Bestattungen stammen aber alle aus etwas unterschiedlichen Zeiten, die sich grob zwei Phasen zuordnen lassen und mehrere hundert Jahre auseinander liegen. Das heißt, diese Höhle wurde über eine Zeit, die zwischen 400 und 600 Jahren geschätzt wird, immer wieder als Bestattungsplatz aufgesucht. Es war also kulturell relevant, dass die Lieben hier beigesetzt wurden. Das zeigt sich vor allem an einem Fund aus dem Jahr 2007:
Ein abgehackter Kopf
Das klingt erstmal grausam, ist aber etwas, was in der ganzen Menschheitsgeschichte immer wieder vorkommt. In Kulturen, in denen der Ort der Bestattung wichtig ist, muss man seine Angehörigen irgendwie zu ihrem Bestattungsort bringen. In einigen Aboriginegruppen ist es zum Beispiel relevant, dass bestimmte Personen an dem Ort beigesetzt werden, an dem sie ihr erstes Känguru gejagt haben. Verstirbt dieser Mensch aber nun sehr weit von diesem Ort entfernt, muss man ihn dort hintragen – und das geht einfacher, wenn man den Leichnam zerhackt. Dieses kulturelle Ritual war übrigens ein Grund, warum Aborigines als Kannibalen bezeichnet wurden – nur hat dies mit Kannibalismus nichts zu tun. Es gibt viele Kulturen, die dieses Problem so lösen.
Man kann außerdem beobachten, dass man der Einfachheit halber nur Einzelteile des Leichnams in das Grab bringt. So entstehen Kopfbestattungen. Die gibt es sogar schon bei dem Homo Naledi. Es ist kein Zeichen von Brutalität, sondern im Gegenteil, es ist eine liebevolle Beisetzung eines Angehörigen. Der abgehackte Kopf in der Blätterhöhle hatte auch Beigaben, die das Unterstreichen: Gleich drei Wildschweinschädel wurden bei dem Kopf deponiert.
Und auch sonst gibt es hier viele Tierknochen, z.B. von Hirschen, Bären oder Wölfen. Nicht alle, aber einige dieser Knochen waren vmtl. ebenfalls Beigaben auf diesem Bestattungsplatz.
Was können wir von der Blätterhöhle noch lernen
Es wurden hier viele Steinwerkzeuge gefunden. Neben dem außergewöhnlichen Fund eines Pfeilschaftglätters, erzählen die Steine selbst die Geschichte einer sehr mobilen Kultur. Es ist nämlich möglich, die Herkunft der Werkzeuge geologisch zu bestimmen.
So wurde festgestellt, es wurde Flintstein aus dem Baltikum als Werkstoff verwendet, aber auch westeuropäischer Flint. Funde, die für eine große Mobilität und/oder weitreichende Kontakte der hier bestatteten Menschen sprechen. Man kennt in Belgien sogar ganz ähnliche Fundplätze. Die Grotte Margaux zum Beispiel. Oder auch der Fundplatz Malonne-Petit Ri, der leider nicht ausreichend dokumentiert werden konnte. Es zeigt sich aber eine sehr ähnliche Idee im gleichen Zeitabschnitt, mit einer räumlichen Distanz, die einen Kontakt zwischen diesen Menschen durchaus wahrscheinlich erscheinen lässt. Die Höhlen waren kollektive Gräber, in denen immer wieder Menschen beigesetzt wurden. Ein kulturelles Phänomen der Mittelsteinzeit, das lange Bestand hatte.
Der Fundplatz Blätterhöhle zeigt: sogar sehr lange. Die mittelsteinzeitliche Kultur zog hier noch umher und bestattete Angehörige, als es in dieser Region schon die Jungsteinzeit gab. Die ersten sesshaft lebenden Menschen, die sich in der Region ansiedelten, haben die mittelsteinzeitlichen nomadisch lebenden Gruppen vmtl. gekannt, denn sie lebten gleichzeitig nebeneinander. Bei so einem Fundplatz wünscht man sich doch, diesen Menschen einmal in das Gesicht zu gucken:
Die Rekonstruktion der Schädel
Die in der Blätterhöhle gefunden Skelettreste zu rekonstruieren ist nicht ganz einfach, denn selbst unter so guten Erhaltungsbedingungen wie in der Blätterhöhle verändern sich Knochen. Das tun sie immer. Je nach chemischem Milieu und physikalischen Einwirkungen vergehen sie mit der Zeit, sie verbiegen oder brechen. Deswegen wurden sie dreidimensional eingescannt und in Schichten exakt vermessen.
Mit diesen digitalen Daten konnte man die verbeulten Schädelknochen wieder geradebiegen. Außerdem sind die Schädel nicht vollständig erhalten. Deswegen wurden sie z.B. gespiegelt, um fehlende Teile möglichst realitätsnah auf der gegenüberliegenden Seite des Gesichts zu ergänzen. Das dadurch entstehende Modell hat man dann mit dem 3D-Drucker ausgedruckt. Was heute relativ einfach klingt, war 2007, als man mit dieser Arbeit begann, noch sehr viel schwieriger.
Es war auch eine Erprobung von Methoden, mit denen die Gerichtsmedizin arbeiten kann, um Mordopfer zu identifizieren, auch wenn deren Überreste stark in Mitleidenschaft gezogen sind. Die Archäologie hilft also der Gerichtsmedizin an dieser Stelle den Erfahrungshorizont zu erweitern. Der rekonstruierte Schädel wurde dann, wie in der Gerichtsmedizin genommen, um das Aussehen der Gesichter zu rekonstruieren. Deswegen können wir im Wasserschloss Werdringen wo der Fundplatz detailliert ausgestellt ist, einer Person digital in die Augen sehen:
Die Ausstellung ist sehr Empfehlenswert, weil durch die Filme die hier im Hintergrund laufen auch das echte Ausgrabungsfeeling gezeigt wird. Da ich selbst ja in der Höhle war, kann ich sagen: Die Ausstellung gibt einen authentischen Einblick davon, wie es wircklich in der Höhle ist, die derzeit für die öffentlichkeit verschlossen ist.
Und wenn du noch mehr über diesen Fundplatz wissen willst – ich habe die Ausgrabung und die Höhle einmal besucht und mit den Höhlenforschern einen Podcast gemacht, klicke hier und er öffnet sich sofort.
Literatur:
Jörg Orschiedt, Flora Gröning und Thorsten M. Buzug: Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell eines jungneolithischen Schädelfundes aus der Blätterhöhle in Hagen, NRW. In: Archäologische Informationen 30/1 2007. 35-41
Jörg Orschiedt und Flora Gröning: Die menschlichen Skelettreste aus der Blätterhöhle, Stadt Hagen. In: Archäologie zwischen Befund und Rekonstruktion – Ansprache und Anschaulichkeit – Festschrift für Prof. Dr. Renate Rolle zum 65. Geburtstag, Hamburg 2007.
Jörg Orschiedt, Jan F. Kegler, Birgit Gehlen, Werner Schön und Flora Gröning: Die Blätterhöhle in Hagen (Westfalen) – Vorbericht der ersten Archäologischen Untersuchungen. In: Archäologisches Korrepondenzblatt Jahrgang 38 1/2008.