Wenn du mal in Lübeck bist, dann habe ich einen Geheimtipp für dich. Schau mal um die Ecken, und geh in kleine Nischen zwischen den Häusern. Denn das, was es dort zu entdecken gibt, ist einfach unfassbar schön. Ein Bericht über:
Die Gängeviertel der Hanse in Lübeck
Am Anfang war ich ein bisschen verschämt, aber ein alter Mann rief mir nur zu – kommen sie hier durch, es ist schön da. Und schon war ich da, in den intimen Innenhöfen Lübecks. In den Gängevierteln, die heute die idyllischsten Orte der Stadt sind. Sie ziehen sich wie ein Labyrinth durch den Ort, sind versteckt hinter den Fassaden der Altstadt mit ihren schmuckvollen Häusern, die den Reichtum der Hanse ganz offen zur Schau stellen. Die Gängeviertel gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe der Hansestadt. Aber die Idylle trügt. Denn wir sehen ja nur restaurierte Gebäude, Historien schick ohne Elend und Hunger.

Heute ist in Blick in die Lübecker Gängeviertel einfach herrlich (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Wir riechen die Originalgerüche nicht, wir hören die vielen Kinder nicht, die im immer schattigen Innenhof aufwuchsen, ein Ort, an dem Krankheiten, wie Rachitis drohten, und wir schmecken auch den Hunger nicht – und vor allem: Wir sehen auch die vielen lange abgerissenen kalten und ärmlichen Bretterbuden nicht mehr. Es wirkt nicht mehr eng heute, sondern niedlich. Man ist schnell in einer andern Welt, in diesen Höfen, was den Eindruck, dass es niedlich ist, unterstreicht. Es gibt in Lübeck ganze Hinterhofoasen, die wirken wie Puppenstuben. Das war nicht immer so:
Gängeviertel – Die Armutsbuden des 14. Jahrhunderts
Die Geschichte der Gängeviertel beginnt mit einer Phase der Überbevölkerung in Lübeck. Es herrschen Armut und Elend. Reiche Geschäftsleute und Grundstücksbesitzer haben schnell eine Idee, wie sie das Problem in Profit verwandeln können. Sie lassen kleine Gänge in ihre Hinterhöfe legen und bauen diese mit Buden voll.

Die Eingänge sind immer wieder unscheinbar und gut versteckt (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Viele möglichst kleine Bretterbuden entstehen in den Höfen neben und übereinander. Slums, versteckt hinter den Fassaden der reichen Händlerhäuser. Dort leben Seefahrer, Handwerker und Tagelöhner, ihre Familien, Frauen und Kinder. In Lübeck regiert, wie in Hansestädten üblich, das Geld. Das erkennt man auch daran, dass zeitweise 80% der Lübecker Bevölkerung in diesen Armutsbehausungen lebt – nur der kleinste Teil, der reiche Teil der Bevölkerung, hat Macht, Einfluss und ein schmuckes Heim. Für die Hinterhofbehausungen gibt es dementsprechend keine Regeln.

So eng und niedrig sind die Gänge – nur eine Person passt in der Breite hindurch, und wer groß ist, muss sich ducken (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Keine Gesetze bestimmen darüber, wie viele Personen in einen Hinterhof gequetscht werden dürfen, oder wie viele Quadratmeter einer Person zustehen – solche Gesetze sind Errungenschaften unserer Zeit. Zur Zeit der Hanse ist es also zunächst eng in Lübecks Innenhöfen, es ist kalt und es riecht auch nicht gut. Und trotzt alledem: Stadtluft macht frei – die Bevölkerung wuchs also immer weiter. Alleine in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vergrößert sie sich um ein Viertel. Und damit ist Lübeck nicht alleine. Auch andere Hansestädte sind ähnlich strukturiert. Und so gibt es das gleiche Phänomen auch in Hamburg. Doch weil hier 1892 die Cholera ausbrach, wurden die Hinterhöfe weitestgehend abgerissen. Der Abriss zog sich tatsächlich bis in die 50er Jahre hinein. Heute erinnert in Hamburg nicht mehr viel an die vielen alten Gängeviertel. Wer sich also einen Eindruck machen will, der muss nach Lübeck fahren.
Vom Elendsquartier zur Stiftung – die Lübecker Kaufleute entdecken ihre soziale Ader
Nach und nach findet ein Umdenken statt. Eine Gesellschaft, in der 80% der Menschen in Elendsvierteln lebt – soviel Ungleichheit kann einfach nicht langfristig funktionieren. Doch bevor es zu einem Aufstand kommt, beginnen die Reichen andere Ideen zu entwickeln. Ein Beispiel für das Umdenken ist der Hövelngang. Zunächst ein Slum widmende der Ratsherr Tidemann Evinghusen 1483 einen Hinterhof armen und bedürftigen Menschen.

Der Eingang zum Hövelngang (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Dieser Hinterhof wurde 1570 vom Bürgermeister Höveln übernommen und wird deswegen heute Hövelngang genannt. Im 16. Jahrhundert wurden dann die Bretterbuden abgerissen und Steinhäuschen errichtet. Es gab also angenehme Behausungen anstelle der Slumhütten. Diese Häuschen stehen dort bis heute. Steigende Mieten in Ballungsräumen wurden im 16. Jahrhundert auch von der reichen Bevölkerung als Problem wahrgenommen. Und so ergab sich die Idee, dass reiche Lübecker*innen Stiftungen gegründeten, um in den Hinterhofwohnungen günstigen Wohnraum für weniger gut situierte Menschen sicherzustellen.

Der Hövelngang heute (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Oft wurden diese Wohnungen dann aber auch genutzt, um Kaufmannswitwen gut versorgt unterzubringen – das vermeintlich soziale Engagement war also nicht ganz uneigennützig. Wer einflussreiche Verbindungen hatte, war also einmal mehr klar im Vorteil. Aber: Bis heute gibt es diese Stiftwohnungen. Der Hövelnhof wurde beispielsweise 1792 so ausgebaut, wie wir ihn heute kennen – die Wohnungen dort werden bis heute als Alterswohnungen genutzt.
Lübecks Hinterhofoasen laden heute zum Staunen ein
Die vielen Hinterhöfe beeindrucken also bis heute. Was man alles hinter kleinen Vorsprüngen und niedrigen Durchgängen finden kann, ist bemerkenswert. Die Ecken, in die am Tage die Sonne fällt, sind oft niedlich gestaltet. Die Häuser werden liebevoll gepflegt und restauriert. Gemütliche kleine Wohneinheiten, in denen heute idyllisch gewohnt und oft auch gealtert wird.

Die Innenhöfe werden heute von den Anwohner*innen hübsch gestaltet (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Platz für die ganze Kleinfamilie in den schnuckeligen Innenhöfen – oder eben auch für die Senioren-WG. Es gibt noch 90 der ursprünglich 180 Gänge, die ihr entdeckten könnt. Allerdings sind einige verschlossen und einige nur tagsüber geöffnet. Das hat auch seinen Sinn:
Hinweise zum Entdecken der Lübecker Gängeviertel
Wenn ihr also einmal in Lübeck seid – achtet auf kleine Durchgänge und geht in diese wunderbaren Hinterhöfe, die ehemaligen Gängeviertel. Aber ich bitte euch: Benehmt euch. Das ist das zu Hause anderer Menschen. Schmeißt also bitte keinen Müll herum, seid leise und wahrt die Privatsphäre der Anwohner*innen. Sie sind keine Tiere im Zoo, sondern Menschen, die da leben (wobei ich den allermeisten von euch wohl kaum erklären muss, wie man sich benimmt – ich möchte es trotzdem dazu sagen).

Die Einblicke, die ihr dort bekommt, sind herrlich – also benehmt euch 😉 (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Lasst vielleicht die Kamera einmal mehr in der Tasche. Ihr wollt ja schließlich auch nicht unbedingt Touristen in euren Vorgärten haben, die in euer Zuhause hinein fotografieren. Oder noch besser, in das Schlafzimmer. Dieses Kulturerbe kann besichtigt werden, solange sich die Gäste benehmen. Ist das irgendwann nicht mehr der Fall, dann kann ich die Menschen, die das Tor zu ihrem zu Hause versperren, durchaus verstehen. Freundlichkeit hat übrigens noch einen anderen Vorteil: Wenn ihr nett seid, dann gibt es aber immer wieder Anwohner, die euch besonders schöne Hinterhöfe zeigen.

Zum Beispiel den Hövelngang habe ich nur durch einen Anwohner entdeckt (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Ich wünsche euch also viel Spaß beim Entdecken und erkunden von diesem, eher unbekannten Teil der Langen Lübecker Stadtgeschichte. Wenn ihr die Geschichte der Hanse erkunden wollt, dann gehören diese Armutsbehausungen und ihre Geschichte nämlich unbedingt zu dem Gesamtbild, wie das Holstentor, oder die tollen Fassaden an Lübecks alten Hansestraßen.
Literatur:
https://www.luebeck-tourismus.de/altstadt/gaenge-hoefe
https://www.luebeck.de/de/stadtleben/tourismus/luebeck/sehenswuerdigkeiten/gaenge-und-hoefe/index.html
https://www.luebeck-info.com/sehenswuerdigkeiten/hoefe-und-gaenge_mehr.html
Hallo Miss Jones,
vielen Dank für den guten Beitrag. Der Bauhistoriker Michael Scheftel würde einige Akzente anders setzen, auch Margrit Christensen. Der Wandel vom Problemort zur Idylle kam erst um 1970, bis weit ins 20. Jahrhundert gab es im Juli und August Cholera- und Typhusepedemien.
Herzlicher Gruß
Manfred Eickhölter
Danke für die Zusatzinfo.
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