Die Minoer sind eine Kultur der Bronzezeit, die uns viele archäologische Spuren hinterlassen hat. Man kann diese Kultur immer besser verstehen – aber manche Funde stellen uns vor ein Rätsel. Dazu gehört
Der Kernos von Malia
Am Eingang der meisten minoischen Stätten findet sich ein Kernos. Ein runder Stein mit Mulden. Und mit Stätten meine ich vor allem Grabstätten, so findet sich vor den beiden Grabhäusern des Ortes Gournia ein Kernos. Dieser sieht so aus:

Der runde Stein im Vordergrund, mit den Mulden ist gemeint (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Besonders bekannt ist der Kernos der Palastanlage von Malia. Er ist, mit 90 cm im Durchmesser, der größte bekannte Kernos und der am schönsten gearbeitete. Der Palast von Malia auf Kreta stammt aus der Bronzezeit, und zwar aus der Neupalastzeit, die gegen 1.700 v. Chr. begann. Die Anlage ist so errichtet, dass, wenn man zum Haupteingang der Anlage gelangen möchte, eine Prachtstraße entlang laufen muss, die zunächst am Palast vorbeiführt. Es besteht die Vermutung, dass auf dieser Prachtstraße Erntefeste gefeiert wurden. Am Ende der Prachtstraße muss man quasi auf die Rückseite des Palastes gehen, um in das Gebäude zu kommen. Der Haupteingang besteht aus einer Treppe und direkt oberhalb der Treppe, seitlich eingerückt liegt der Kernos.

Der Kernos von Malia (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Der runde Stein liegt also an exponierter Stelle. Und was man sich vorstellen muss, damals lag der Kernos nicht wie jetzt unter freiem Himmel, sondern indoor im Palasteingang. Er hat 34 Mulden, von der eine sehr viel größer ist als alle anderen. Bei einem so seltsamen Objekt, an einem so wichtigen Ort stellt sich natürlich die Frage, um worum es sich handelt.
Eine logische Theorie ist, dass es sich um einen Opfertisch handelt. Dass die Besucher*innen des Palastes Opfergaben in die einzelnen Mulden legten, bevor sie den Palast betreten haben.
Immerhin, der Kernos wurde direkt zwischen der Prachtstraße gebaut, auf der möglicherweise kultische Feste gefeiert wurden und einem weiteren Ort, der mit rituellen Handlungen in Verbindung stehen kann: dem großen Innenhof. Hier gibt es auch eine große Prunktreppe, die vielleicht einmal eine große Tribüne war, von der aus man Veranstaltungen auf dem großen zentralen Platz des Palastes beobachten konnte – der Kernos liegt relativ direkt neben der Tribühne, im Nebenraum. Geht man an dem Kernos vorbei in das Innere des Palastes, gelangt man direkt zu eben diesem großen Innenhof. Auch diese Innenhöfe gibt es in allen minoischen Palastanlagen. Die Vermutung hier, es handelt sich um Orte wo Stiersprünge gemacht wurden.

Die Rekonstruktion einer Wandmalerei der Minoer aus dem Palast von Knossos (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Wandmalereien sind bis heute erhalten, auf denen zu sehen ist, wie Männer über Stiere springen. Doch all das ist natürlich Interpretation. Vielleicht gab es diese Stiersprünge nur als Bestandteil einer Geschichte, vielleicht aber, gab es tatsächlich solche Feste, die in diesen Innenhöfen gefeiert wurden. Und vielleicht war der Kernos ja eine Art Wettbüro für ein Sportevent, das hier veranstaltet wurde.
Meist wird aber von etwas anderem ausgegangen.
Auffällig ist, im Innenhof des Palastes von Malia gibt es eine Baustruktur, die als kultisch interpretiert wird. Das ist im Vergleich allen anderen minoischen Palastanlagen einzigartig. Aber: oft wird deshalb auch der Kernos als kultisches Objekt interpretiert.

Die runden Kornspeicher des Palastes liegen unweit des Nordeinganges, beim Aufgang an der Westfassade, und damit einen Eingang vor dem Haupteineng, von der bronzezeitlichen Siedlung aus gesehen (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Durchaus möglich ist aber auch, dass es das Erntefest an der Prachtstraße nicht gab und diese ist nur so groß gebaut wurde, damit alle Fahrzeuge einen guten Zugang zu dem Getreidespeicher haben. Der Eingang zu diesen Speichern liegt direkt an der Prachtstrasse.
Aber was könnte der Kernos dann für eine Funktion gehabt haben?
Immerhin solche runden Steine mit Mulden oder Markierungen finden sich überall an Eingängen minoischer Paläste und Siedlungen. Eine Idee ist, es könnte sich um ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Bronzezeit gehandelt haben, mit dem sich die Wächter*innen ihre Zeit vertrieben – denn immerhin Brettspiele gab es damals schon. Der Kernos von Malia besteht aus Marmor. Ein Baumaterial, das sonst keine Verwendung in dieser Palastanlage findet. Der ganze Palast ist aus regionalen, auffällig roten Gestein gebaut. Das bedeutet, das Baumaterial für dieses Objekt wurde aufwendig nach Malia gebracht. Das ist besonders, denn nicht jeder dieser runden Rätsel besteht aus so exklusiven Material, wie ein Vergleich mit einem Kernos aus Gournia zeigt.

Eine Kammer des Ostmagazins. Es ist deutlich sichtbar, dass hier verwendete Gestein ist rötlich (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Ist das wirklich sinnvoll, dass für ein Brettspiel für die Palastwächter*innen, so ein Aufwand betrieben wurde? Das würde für besonders gute Arbeitsbedingungen an genau diesem eher ländlichen Palast sprechen. Es ist aber eher unwahrscheinlich. Wenngleich die Vorstellung eine recht schöne ist.
Doch offensichtlich ist, der Kernos dient zur Repräsentation, es handelt sich um ein Prestigeobjekt.
Bei Malia handelt es sich um einer eher kleinere Palastanlage der Minoer, quasi eher um eine Landvilla als um einen Palast. Da ist es wahrscheinlich, dass an dieser prominenten Stelle ein Objekt platziert wurde, welches den Reichtum unterstreicht oder die Identität ausdrückt. Ein teurer Kernos am Eingang eignet sich dafür perfekt. Er ist baulich fest installiert auf einer kleinen Anhöhe und deswegen Teil der Gesamtarchitektur. Das bedeutet, er blieb immer an Ort und Stelle. Er ist ein Symbol, das wir heute nicht mehr verstehen, aber wir wissen sicher, Menschen aus der Kultur der Minoer, die diesen Kernos gesehen haben, wussten, was das ist, dass er bedeutet und wozu er da ist – und dass dieser eben besonders prachtvoll ist.

Die Lage des Kernos ist eher exponiert und prominent (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Es ist also in der Tat wahrscheinlicher, dass es sich bei dem Kernos um eine Art Opfertisch handelt. Vielleicht ist es aber auch ein ganz anderes Objekt. Vielleicht wurde hier etwas gemessen. Oder aber es handelt sich um eine Art Kalender, der z.B. anzeigte, wann der nächste Markttag sein wird. Immerhin ist klar, die Minoer trieben Handel, und das nicht nur auf Kreta, sondern auch darüber hinaus. Das Belegen zum Beispiel Aufzeichnungen aus dem alten Ägypten, exquisite Keramiken, die man in Ägypten gefunden hat, aber auch die Seehäfen aus dieser Zeit. Was wirklich hinter diesem mysteriösen Objekt steckt, werden wir vmtl. nie erfahren. Es sei denn, es taucht eines Tages ein Papyrus der Ägypter auf, das von diesem kreisrunden Stein erzählt.

Doch schön ist dieses Fundstück allemal (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Vielleicht ist es auch eines Tages möglich die Linear A Schrift zu lesen. Eine Schriftart der Minoer, die aus Piktogrammen (also kleinen Bildern) besteht, und die bis heute nicht entschlüsselt werden konnte. Gut möglich, dass wir so herausbekommen können, welchen Zweck ein Kernos hatte. Immerhin, diese Schriftzeichen stehen vmtl. eher in einem kulturellen Kontext. Um die wirtschaftlichen Belange zu regeln und Rechnungen auszustellen hatte diese Kultur nämlich eine zweite Schrift entwickelt, die Linear B Schrift, welche sich bereits übersetzen lässt. Was nun aber ein Kernos ist, wird wahrscheinlich noch lange ein Rätsel bleiben. Und das heißt auch: Ich habe hier wieder einmal eine Forschungslücke gefunden, die du vielleicht eines Tages mit deiner eigenen Forschung schließen kannst.
Literatur:
Badisches Landesmuseum Karlsruhe; Im Labyrinth des Minos – Kreta – die erste Hochkultur.
https://www.schwarzaufweiss.de/kreta/palastvonmalia2.htm
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Spontaner Gedanke (aus absoluter Laienperspektive): Zählstein. Bauern und Händler liefern ihre Ware ab, besuchen den Tempel und legen dabei eine symbolische Opfergabe für ihre Lieferung in eine der Mulde. Wenn die große Mulde erreicht ist, macht ein Tempelbeamter ein Häkchen auf seinem Klemmbrett – oder wie immer man damals größere Mengen abgezählt hat. Quasi ein religiös fundiertes System der Steuerverwaltung.
Also, so stelle ich mir das jedenfalls vor. Aber das mag natürlich reine Fantasie sein. 🙂
Der Gedanke ist durchaus nachvollziehbar. Und in frühen Arbeiten in der Archäologie werden auch solche Vermutungen geäußert. Warum aber gibt es denn solche Kernoi auch vor Grabstätten? Diese Frage lässt sich mit dieser Idee nicht beantworten. Auch, wenn sie gut ist.
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