Am Eingang der meisten minoischen Stätten findet sich ein Kernos. Ein runder Stein mit Mulden. Besonders bekannt ist der Kernos der Palastanlage von Malia. Er ist, mit 90 cm im Durchmesser, der größte bekannte Kernos und der am schönsten gearbeitete. Der Palast von Malia auf Kreta stammt aus der Bronzezeit, und zwar aus der Neupalastzeit, die gegen 1.700 v. Chr. begann. Die Anlage ist so errichtet, dass, wenn man zum Haupteingang der Anlage gelangen möchte, eine Prachtstraße entlang laufen muss, die zunächst am Palast vorbeiführt. Es besteht die Vermutung, dass auf dieser Prachtstraße Erntefeste gefeiert wurden. Am Ende der Prachtstraße muss man quasi auf die Rückseite des Palastes gehen, um in das Gebäude zu kommen. Der Haupteingang besteht aus einer Treppe und direkt oberhalb der Treppe, seitlich eingerückt liegt der Kernos.
Der runde Stein liegt also an exponierter Stelle. Er hat 34 Mulden, von der eine sehr viel größer ist als alle anderen. Bei einem so seltsamen Objekt, an einem so wichtigen Ort stellt sich natürlich die Frage, um worum es sich handelt. Eine logische Theorie ist, dass es sich um einen Opfertisch handelt. Dass die Besucher*innen des Palastes Opfergaben in die einzelnen Mulden legten, bevor sie den Palast betreten haben. Immerhin, der Kernos wurde direkt zwischen der Prachtstraße gebaut, auf der möglicherweise kultische Feste gefeiert wurden und einem weiteren Ort, der mit rituellen Handlungen in Verbindung stehen kann. Geht man an dem Kernos vorbei in das Innere des Palastes, gelangt man nämlich direkt in einen großen Innenhof. Auch diese Innenhöfe gibt es in allen minoischen Palastanlagen. Die Vermutung hier, es handelt sich um Orte wo Stiersprünge gemacht wurden. Wandmalereien sind bis heute erhalten, auf denen zu sehen ist, wie Männer über Stiere springen.
Doch all das ist natürlich Interpretation. Vielleicht gab es diese Stiersprünge nur als Bestandteil einer Geschichte, vielleicht aber, gab es tatsächlich solche Feste, die in diesen Innenhöfen gefeiert wurden. Auffällig ist, im Innenhof des Palastes von Malia gibt es eine Baustruktur, die als kultisch interpretiert wird. Das ist bei allen minoischen Palastanlagen einzigartig. Durchaus möglich ist aber auch, dass es das Erntefest an der Prachtstrase nicht gab und diese ist nur so groß gebaut wurde, damit alle Fahrzeuge einen guten Zugang zu dem Getreidespeicher haben. Der Eingang zu diesen Speichern liegt direkt an der Prachtstrasse. Aber was könnte der Kernos dann für eine Funktion gehabt haben? Immerhin solche runden Steine mit Mulden oder Markierungen finden sich überall an Eingängen minoischer Paläste und Siedlungen. Eine Idee ist, es könnte sich um ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Bronzezeit gehandelt haben, mit dem sich die Wächter*innen ihre Zeit vertrieben. Der Kernos von Malia besteht aus Marmor. Ein Baumaterial, das sonst keine Verwendung in dieser Palastanlage findet. Der ganze Palast ist aus regionalen, auffällig roten Gestein gebaut. Das bedeutet, das Baumaterial für dieses Objekt wurde aufwendig nach Malia gebracht. Das ist besonders, denn nicht jeder dieser runden Rätsel besteht aus so exklusiven Material, wie ein Vergleich mit einem Kernos aus Gournia zeigt.
Ist das wirklich sinnvoll, dass für ein Brettspiel für die Palastwächter*innen, so ein Aufwand betrieben wurde? Das würde für besonders gute Arbeitsbedingungen in dieser Kultur sprechen. Es ist aber eher unwahrscheinlich. Doch offensichtlich ist, der Kernos dient zur Repräsentation, es handelt sich um ein Prestigeobjekt. Bei Malia handelt es sich um einer eher kleinere Palastanlage der Minoer, quasi eher um eine Landvilla als um einen Palast. Da ist es wahrscheinlich, dass an dieser prominenten Stelle ein Objekt platziert wurde, welches den Reichtum unterstreicht. Ein teurer Kernos am Eingang eignet sich dafür perfekt. Er ist baulich Fest installiert auf einer kleinen Anhöhe und deswegen Teil der Gesamtarchitektur. Das bedeutet, er blieb immer an Ort und Stelle.
Es ist also wahrscheinlicher, dass es sich bei dem Kernos um eine Art Opfertisch handelt. Vielleicht ist es aber auch ein ganz anders Objekt. Vielleicht wurde hier etwas gemessen. Oder aber es handelt sich um eine Art Kalender, der z.B. anzeigte, wann der nächste Markttag sein wird. Immerhin ist klar, die Minoer waren eine Seefahrer*innen- und Händler*innenkultur. Das Belegen zum Beispiel Aufzeichnungen aus dem alten Ägypten. Was wirklich hinter diesem mysteriösen Objekt steckt, werden wir vmtl. nie erfahren. Es sei denn, es taucht eines Tages ein Papyrus der Ägypter auf, dass von diesem kreisrunden Stein erzählt. Vielleicht ist es auch eines Tages möglich die Linear A Schrift zu lesen. Eine Schriftart der Minoer, die aus Piktogrammen (Also kleinen Bildern) besteht, und die bis heute nicht entschlüsselt werden konnte. Gut möglich, dass wir so herausbekommen können, welchen Zweck ein Kernos hatte. Immerhin, diese Schriftzeichen stehen vmtl. eher in einem kulturellen Kontext. Um die wirtschaftlichen Belange zu regeln und Rechnungen auszustellen hatte diese Kultur nämlich eine zweite Schrift entwickelt, die Linear B Schrift, welche sich bereits übersetzen lässt. Was nun aber ein Kernos ist, wird wahrscheinlich noch lange ein Rätsel bleiben.
Literatur:
Badisches Landesmuseum Karlsruhe; Im Labyrinth des Minos – Kreta – die erste Hochkultur.
https://www.schwarzaufweiss.de/kreta/palastvonmalia2.htm
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Spontaner Gedanke (aus absoluter Laienperspektive): Zählstein. Bauern und Händler liefern ihre Ware ab, besuchen den Tempel und legen dabei eine symbolische Opfergabe für ihre Lieferung in eine der Mulde. Wenn die große Mulde erreicht ist, macht ein Tempelbeamter ein Häkchen auf seinem Klemmbrett – oder wie immer man damals größere Mengen abgezählt hat. Quasi ein religiös fundiertes System der Steuerverwaltung.
Also, so stelle ich mir das jedenfalls vor. Aber das mag natürlich reine Fantasie sein. 🙂
Der Gedanke ist durchaus nachvollziehbar. Und in frühen Arbeiten in der Archäologie werden auch solche Vermutungen geäußert. Warum aber gibt es denn solche Kernoi auch vor Grabstätten? Diese Frage lässt sich mit dieser Idee nicht beantworten. Auch, wenn sie gut ist.