Zwischen Hörsaal und Schlafplatzsuche: Wenn man während des Studiums obdachlos wird

Obdachlos im Studium? Wie geht’s das? Und wie kann es dazu kommen? Und wie kann ich Betroffenen helfen? Ich möchte euch heute einen Teil meiner Geschichte erzählen. Denn oftmals werde ich als die Top einser Studentin, mit dem Deutschan Studienpreis, die die alles in die Wiege gelegt bekommen hat gesehen. Und nichts davon Stimmt – nicht nur wegen meine Legasthenie – es ist noch mehr schief gelaufen: Die Frage ist also, was ist überhaupt passiert:

Meine Geschichte zeigt: Jeder Mensch kann obdachlos werden

Nachdem ich den Bachelor abgeschlossen hatte, ging ich 2013 für den Master nach Wien. Ich nahm mir ein Studierendenzimmer. Das ist ein Zimmer von jemanden, der erwachsene Kinder hat und die leerstehenden Kinderzimmer billig an Studierende vermietet. Ich gelangte so zu einem durchgeknallten Vermieter. Dieser versuchte Kontrolle über mein Leben zu bekommen, mir seine Weltsicht aufzuzwingen – er störte sich daran, dass ich nicht katholisch war. Das Ganze endete damit, dass er mir drohte, mich in meinem Zimmer zu verbrennen, um mir beizubringen, wie sich eine fügsame Frau zu verhalten hat. Ich musste fliehen. Ich war in Lebensgefahr.

Eine Frau in grüner Kleidung sitzt auf einem Gehweg vor einer Wand auf dem Boden. Links von ihr ist ein Mülleimer, rechts von ihr ein Koffer.

Ich hatte in der Situation nichts mehr. Aber ich war auch glücklich, dass ich lebte (Bild: Hassan (Pixabaylizenz)).

Dann stand ich auf der Straße. Ich studierte weiter. Obdachlos. In der Uni musste ich immer wieder wegrennen. Nach meiner traumatischen Erfahrung hatte ich eine Zeitlang Panik in geschlossenen Räumen in höheren Stockwerken (und wer schon mal im Wiener Institut war, weiß wie hoch es da ist). Ich habe am Ende die Uni abgebrochen. Das Gerichtsverfahren gegen meinen Vermieter dauerte 1 1/2 Jahre. Eine Zeit, in der ich keine neue Wohnung suchen konnte, da mir das Geld, dass ich als Kaution hinterlegt hatte, fehlte. Danach war es verdammt schwer, mich wieder zurückzukämpfen. Aber ich habe es geschafft und den Masterabschluss nachgeholt – und dafür am Ende sogar den Deutschen Studienpreis bekommen.

Wie ging es weiter, auf der Straße?

Zunächst bin ich bei Freunden untergekommen, dann in einem Haus für Punks. Das war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Das Haus hatte ein Verein gemietet. Es ist so ähnlich wie das Konzept Housing First, dass es in Finnland gegen Obdachlosigkeit gibt. Man hat die Möglichkeit, sofort zu wohnen und selbstständig sein Leben zu organisieren. Finnland zeigt: Das funktioniert und ist sogar kostengünstiger als andere Formen der Obdachlosenhilfe. Hier eine Doku über unser Projekt:

Wenn der Mietvertrag von dem Haus „Pizzeria Anarchia“ in Wien nicht gekündigt und das Projekt medienwirksam zerstört worden wäre, dann hätte ich mein Studium in Ruhe abschließen können. So stand ich abermals auf der Straße, während das Gerichtsverfahren gegen den Vermieter immer noch lief. Durch ein paar Ausgrabungen hatte ich zwar etwa 3.000 € verdient, aber die mussten auch für meinen Lebensunterhalt für ein Jahr reichen – und nein, das ist kein Scherz, 3.000 € waren für lange Zeit mein komplettes Jahreseinkommen. Eine Kaution für eine neue Wohnung war nicht drin. Ich hielt Wien nicht mehr aus und war so oft wie möglich irgendwo anders.

Der Alltag war zunächst ein Doppelleben

Ich kann nicht behaupten, dass ich einen Alltag hatte. Ich war bei Sozialarbeitern, die obdachlose Punks betreuen, angemeldet, aber zog es vor, meine Angelegenheiten selbst zu regeln. Doch: Ganz normale Alltäglichkeiten waren ein Problem. Mein Handy war mein ständiger Begleiter. Rumtelefonieren – wo kann ich Wäsche waschen – wo kann ich duschen. Oft schlich ich mich aus Uniseminaren raus, um mich auf der Toilette heimlich zu waschen. Wenn jemand zur Tür hereinkam, verschwand ich in Windeseile in einer Klokabine. Aber ich glaube, dass ein paar Kommilitoninnen das bemerkt haben. Denn einige boten mir an bei ihnen zu schlafen oder zu duschen. (Mein Herz für euch)

Die Zytglogge von weitem. Der Turm mit seinem in zwei Teile segmentieren spitzen Dach, wie er am Ende einer großen Straße steht. Unten liegt ein Durchgang.

Ich fuhr nach Bern, 2 Tage habe ich vor der Zytglogge jongliert, um das Geld für das erste Museumsticket zusammenzubekommen und den Blog zu beginnen (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).

In den obdachlosen Gruppen, mit denen ich unterwegs war, wusste jeder, dass ich studiere. Sie legten sogar Wert darauf. Verzichteten auf Strom für ihre Handys, damit ich mit meinem Laptop lernen konnte. An der Uni habe ich meine Probleme versteckt. Bei dem archäologischen Institut in Wien gibt es einen Park, meinen Rucksack versteckte ich in einem Busch. Im Winter fing es einmal an zu schneien, und dann zu tauen. Meine Sachen wurden nass. Freunde stellten dann meine Sachen unter. Auch toll: Die Sozialarbeiter, bei denen ich gemeldet war, hatten ein Postfach, das aussah wie eine normale Adresse – damit konnte ich weiter studieren, krankenversichert sein und arbeiten. Irgendwann war ich dann müde von diesem Doppelleben und begann mein eigenes Ding zu machen und fuhr nach Lampedusa. Das war die Geburtsstunde von Miss Jones.

Das Problem mit Menschen, die einem helfen

Natürlich gibt es in so einer Situation Menschen, die helfen. Aber es gibt auch Hilfe, die problematisch ist. Z.B. die Geschichte, dass man Obdachlosen eher was zu essen kaufen soll, als ihnen Geld zu geben. Denn die kaufen sich sonst Schnaps. Ich habe in der gesamten Zeit auf der Straße genau einmal ein halbes Radler getrunken – Jeder CSU Politiker säuft mehr als ich. Aber selbst wenn: Einen Alkoholiker ohne Betreuung auf kalten Entzug zu setzen, kann den umbringen. Wenn jemand Drogenprobleme hat, braucht diese Person Hilfe. Gemacht wird das Gegenteil. Ich weiß nicht, wie oft mir Mehrkornbrötchen geschenkt wurden. Leider habe ich eine Allergie gegen Sesam und blieb dementsprechend hungrig. Schlimmer aber: Helfer können sogar gefährlich sein.

Pergament mit der Aufschrift ungefragte Hilfe kann eine Form der Bevormundung sein.

(Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).

Es gibt Männer, die einem einen vermeintlich sicheren Schlafplatz anbieten und dann sexuelle Gegenleistungen fordern, als Dankeschön für die „großzügige Hilfe“. Ich konnte immer wegrennen, aber, ich habe dabei gelernt genau zu schauen, wie Menschen sich verhalten. Auch in Freundschaften kann „Helfen“ toxisch werden. Eine Art jemanden herumzukommandieren. „Als Dankeschön könntest du ja …“ – das ist keine Hilfe! Helfen kann sogar eine Tarnung sein, dir das Gefühl zu geben unfähig zu sein. Bei mir geht das natürlich besonders einfach, weil das Selbstbewusstsein auf der Straße kaputtgeht. Durch Sprüche wie „geh arbeiten“, „hättest du mal in der Schule aufgepasst“…

Wie kommt man aus so einer Situation wieder raus?

Meine Antwort ist: Man muss einen Traum haben und sich an ihm festhalten. Journalisten haben mich damals, 2015, nach Lampedusa mitgenommen. Als wir dort waren, habe ich gemerkt, dass ich sie durch meine archäologische Ausbildung, unterstützen kann. Wir haben eine außergewöhnlich gute Recherche gemacht. Ich hatte Spaß, alles, was ich tat, machte Sinn. Mir wurde klar: Die meisten wissen gar nicht, was Archäologie alles kann. Deswegen gründete ich Miss Jones. Mein weg mich mit beiden Händen an einer einzigen Sache festzuhalten: Meinen Traum von der Archäologie.

Boote liegen im Wüstensand. Im Vordergrund sind zwei Holzboote zu sehen, die mit dem Bug zueinander liegen, und dahinterliegende weitere Boote verdecken. Das rechte Boot ist weis blau rot gestrichen, das Linke in Weiß und blau.

Ich habe damals das erste Mal einen Schiffsfriedhof mit Fluchtbooten entdeckt (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).

Für den ersten Artikel habe ich in Bern zwei Tage vor der Zytglogge jongliert, bis ich das Geld für einen Museumsbesuch zusammen hatte. Die Uni hatte ich lange geschmissen. Ich versuchte noch zweimal einen Neustart in Wien. Dann wurde mir klar, ich muss nach Hause. Mir fehlte das Gefühl, irgendwo hinzugehören. In Hamburg konnte ich bei Freunden unterkommen. Als die sahen, wie ich kämpfte, half erst einer einen Job, als Küchenhilfe zu finden, dann konnte ich in ein Zimmer ziehen, mit einer richtigen Meldeadresse und schließlich zog ich in eine Übergangswohnung.

Dann begann der eigentlich harte Teil der Geschichte

Die Übergangswohnung war ein schrecklicher Ort. Erdgeschoss in einer unsicheren Region, ein Typ der mich durch die Fenster im Schlaf filmt, mehrfache Einbrüche, Unterwäsche aus meinem Kleiderschrank geklaut, 2 Stunden Fußmarsch von meinem Zuhause entfernt. Ich hatte jede Nacht Angst. Ich war allein, schutzlos und isoliert. Es war still, das machte mir noch mehr Angst. Die Elbe floss bei Flut durch die Dusche in die Wohnung. Es schimmelte und die Heizung ging nicht, im Winter 5 Grad in der Wohnung – gefühlt kaum ein unerschied zu den -5 Grad in einem Abrisshaus in dem ich einen Winter überlebt hatte. Alle dachten, mir geht es gut. Kaum jemand verstand: Obdachlos ging es mir besser! Ich blieb nur aus einem Grund: um den Master zu schaffen.

Eine Frau ist am Boden gekauert und hat die Arme um die Beine geschlungen.

Nach den ganzen Jahren des Trubels brüllte mich die Stille aus vollem Halse an (Bild: Anemone (Pixabaylizenz)).

War aber zunehmend depressiv. Der Corona-Lockdown bedeutete für mich keine Veränderung – ich war seit 2017 bereits im Lockdown. Nach 5 Jahren Horrorwohnung, 5 Jahre jeden Tag in Angst und Panik leben, habe ich dann endlich ein Zuhause gefunden. Ich wollte schon aufgeben – einfach wieder auf der Straße leben. Doch Wohnungsbesichtigung 1003 war erfolgreich. Das heißt: Mein Leben ist erst seit dem Sommer 2022 in einer Situation, in der ich nicht mehr täglich Angst habe – und ich brauche immer noch, um anzukommen, nach fast 10 Jahren unsicherheit.

Wie kann ich denn am besten jemanden helfen, der offensichtlich auf der Straße lebt?

Was willst du und was kannst du? Gib der Person ruhig Geld oder frage, was sie braucht – das können manchmal auch Tampons und ähnliches sein. Manchmal hat mir jemand eine Wiener Melange oder einen Tee ausgegeben. Das verschönert einen ganzen Tag. Einmal stand auch ein etwa neunjähriges Mädchen vor mir und fragte, ob ich gar keinen Schal hätte. Dann nahm sie ihren ab und gab ihn mir. „Aber, was sagt denn deine Mami dazu?“, da kam eine Frau und sagte „Mami sagt, das ist okay“.

Ich selbst mit dem bunten Schal um den Hals.

Ich habe den Schal bis heute, aber mittlerweile trage ich ihn nur noch, wenn es richtig kalt ist, oder ich krank bin, weil ich viel zu viel Angst habe, ihn zu verlieren (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).

Dieser Kinderschal hat mich warmgehalten. Ich habe ihn bis heute und werde ihn nie weggeben. Er hat mir Mut gemacht, weiterzumachen. Was auch hilft, ist, sich Zeit nehmen. Ohne Vorurteile, einfach zuhören. Das hilft mehr als ihr glaubt. Denn gesehen und ernst genommen zu werden, baut den Selbstwert wieder auf, den man braucht, um sich selbst zu helfen. Das ist auch das Wichtigste, das ich für das Leben gelernt habe: Mit ganzen Herzen zuhören löst ganz viele Probleme.

Übrigens finanziere ich Miss Jones bis heute selbst. Deswegen freue ich mich über Trinkgeld – das hilft mir nämlich dabei!

22 Gedanken zu „Zwischen Hörsaal und Schlafplatzsuche: Wenn man während des Studiums obdachlos wird

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  2. Deine Geschichte ist wirklich hart. Leben organisieren, Geld verdienen und Studieren ist schon eine Herausforderung, fand ich, aber ich hatte Riesenglück mit meiner Frauen-WG. Mit ihnen bin ich heute noch in Kontakt. Aber ein verrückter
    Vermieter und Obdachlosigkeit… Großen Respekt, dass du allen Widrigkeiten zum Trotz deinen Master gemacht hast!

  3. Vielen Dank, dass Du diese Erfahrungen mit uns teilst. Eine echt harte Zeit, aber Du hast es geschafft. Darauf kannst Du sehr stolz sein und diese Leistung wird Dich weiter tragen. Das sage ich nicht einfach so – ich habe mit 43 mit zwei Schulkindern noch mal studiert. Sicher ist das was anderes, aber der Kampf darum hat mich geprägt. Dankeschön, Miss Jones.

  4. Liebe Geesche,

    vielen Dank für diesen Einblick in Deinen Werdegang. Ich finde diesen Tatsachenbricht gleichermaßen faszinierend, wie auch erschreckend. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich ist. Besonders der Abschnitt mit diesem Vermieter…wie ist das Verfahren ausgegangen?
    Du hast an deinem Traum festgehalten und verdienst den größten Respekt für das, was Du erreicht hast. Ich freue ich für Dich und drücke Dir fest alle Daumen für Deinen weiteren Weg.

    GlG Alex

    • Hey, der Vermieter hat vor Gericht alles zugegeben. das war kurios, weil er sagte: “ ich habe nicht versucht sie zu verbrennen, die Klägerin lügt. ich habe nur versucht sie zu verbrennen, damit sie lernet wie sich eine fügsame Frau verhalten muss“… und dann hat der die Richterin angesprochen, nach dem Motto, das sie als Frau das ja verstehen müsse. die Richterin war Kreide bleich. und ich habe am Ende Recht bekommen.

  5. Bei deiner Geschichte kamen mir die Tränen. Aber du bist eine ganz tapfere und starke Frau. Wünsche dir, dass es jetzt nur noch aufwärts geht und du weiter deine Visionen verwirklichst.

  6. Wow! Danke für deine Offenheit und möge dieser Beitrag viele Leser*innen erreichen, damit einerseits ein vorurteilsfreierer Umgang möglich wird und für mehr bezahlbaren Wohnraum, damit es gar nicht erst so weit kommen muss 🍀🤍🕊️🙂

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  16. Vielen, vielen Dank für deinen Mut für deine Offenheit. Jetzt fügen sich die Erzählsplitter zusammen. Ich muss an den Begriff „Spiegelmosaik“ denken. Wir schauen in den Spiegel, den das Leben zerbrochen hat, suchen nach unserer Identität und versuchen die einzelnen Splitter zusammenzufügen. Hochachtung und Respekt: Du hast es geschafft!

    • Hey, danke du liebe!

      Das mit dem Spiegelmosaik ist ein interessantes Bild – weil man sieht sich darin ja öfter, und nicht gespalten. Und so kommt es mir manchmal auch vor. Danke dafür.

      Herzliche Grüße

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