Ein Fussel offenbart Details aus der Zeit der Neandertaler

Es ist lang vor unserer Zeit, dass die Neandertaler über den europäischen Kontinent wandeln. Solange, dass die Spuren, die wir von ihnen finden können, meist aus Stein bestehen – alles andere ist in der Zwischenzeit vergangen. Deswegen ist es schwierig, sich diese Lebenswelt vorzustellen. Und manchmal helfen dabei die allerkleinsten Funde. Deswegen geht es heute um einen Fussel aus dem Mittelpaläolithikum.

Ein Felsüberhang

Das ist ein Beispiel für einen Abri (Bild: Kinne (CC BY-SA 3.0)).

Am Abri du Maras, im Südosten Frankreichs, wurden Faserspuren – also anders gesagt ein Fussel gefunden. Er stammt aus der Zeit zwischen 41.000 und 52.000 vor heute. Der Fundplatz lag unter einem Abri – das ist ein Felsüberhang, unter denen die Menschen dieser Zeit Zuflucht vor der Witterung suchten. Dieser Überhang ist aber irgendwann später abgebrochen. Ein solcher Zusammensturz ist für Archäologen meistens ein Glück, weil die Spuren vergangener Tage dann gut geschützt unter dem herabgestürzten Felsdach liegen. Bei dem Abri du Maras, unter dem bei einer Ausgrabung der Fussel aus der Zeit der Neandertaler gefunden wurde, kommt hinzu, dass der Boden eine chemische Zusammensetzung hatte, welche den Erhalt der Pflanzenfasern begünstigte. Es handelte sich um eine carbonhaltige Brekzienschicht, die wahrscheinlich die Ablagerung von Calcit begünstigte.

Aber was wurde denn jetzt eigentlich genau gefunden?

Am Abri du Maras konnten an einem Werkzeug der Neandertaler Faserspuren nachgewiesen werden. Diese klebten an einem Flintstein, den die Neandertaler zu Werkzeug umgearbeitet hatten – (für Nerds die Information: mit der Levallois-Technik hergestelltes Werkzeug). Dieses Werkzeug wurden nun mit einem Rasterelektronenmikroskop untersucht und so wurden an ihnen die Faserspuren gefunden. Jetzt nicht irgendeinen Fussel, sondern Überreste von Fasern, welche gezwirnt sind – Also verdreht. Das heißt, es hat eine Art Spinnvorgang bei diesem

Eierschalenfarbenes Flintwerkzeug von Zeit Seiten her fotografiert. Es handelt sich um ein Tropfenförmiges Werkzeug, in der Mitte ist eine Anhaftung mit einem digitalen Quadrat markiert.

Das Flintgerät mit der Textilanhaftung (Bild: M.-H. Moncel).

Fussel gegeben. Die dafür verwendeten Fasern bestanden aus Bast von Nadelbäumen. Bast, das ist der Teil des Baumes, der sich direkt unter der Rinde befindet. Wacholder-, Fichten-, Zedern- und Pinenbast wurden unter dem Mikroskop entdeckt. Man kann sehen: Der Bast wurde im Frühjahr geerntet, in dieser Zeit ist die Bastschicht am dicksten, weil sich die Bäume dann mit Wasser vollsaugen. Das heißt auch – die Neandertaler hatten detailreiche Kenntnisse darüber, wie Bäume wachsen. Doch nicht nur das zeigt, die Neandertaler waren clever:

Die mittelpaläolithische Textilproduktion

Der verdrehte Fussel ist der schlagende Beleg dafür, dass die Neandertaler Fertigkeiten kannten Textilien herzustellen. Denn das Zwirnen ist dafür die technische Voraussetzung. Man stellt damit Garn her. Bei dem Garnfussel zeigte sich unter dem Mikroskop, es handelt sich um Fasern, die offenbar erst in die eine Richtung, die S-Richtung, verflochten und dann in die andere Richtung, die Z-Richtung, verzwirnt wurden (Die Bezeichnungen S- und Z-Richtung leitet sich daraus ab, in welche Richtung der jeweilige Querbalken der Buchstaben zeigen – Beim beschrieben Faden

6 Darstellungen der Faserreste 3 schwarz weis aufnahmen unter dem Mikroskop, zwei Farbaufnahmen, und eine Farblich markierte Umzeichnung. Die S- und Z- Bindungen lassen sich deutlich sehen.

Die gefundenen Faserreste in verschiedenen Anschauungen, die den Fund verdeutlichen (Bild: C. Kerfant; Hirox: C2RMF, N. Mélard).

liegen die Fasern je in die gleiche Richtung verdreht). Die erhaltenen Faserreste sind etwa 6,2 mm lang und 0,5 mm dick. Es ist allerdings unklar, in welchen Zusammenhang die Steinwerkzeuge mit den Textilresten standen, die an ihnen klebten. Möglich ist, dass man mit ihnen Garn bearbeitet hat, aber auch, dass man die Steinwerkzeuge mit einer Bastschnur umwickelte, um damit eine Art Griff zu erzeugen oder einen Griff zu befestigen. Oder aber, die Steinwerkzeuge lagen in einer Tasche, als sie im Mittelpaläolithikum dort liegen gelassen wurden. Die Möglichkeiten Bast im Alltag zu verwenden sind nämlich vielfältig:

Bast als Alltagswerkstoff

Bastschnüre haben für die Herstellung von verschiedensten Gegenständen zwei Vorteile: sind steif, aber auch relativ stabil. Ötzi hatte zum Beispiel eine Dolchscheide aus Bast, die robust, hübsch und funktional war. Eine solche Dolchscheide kann man, sobald man den Bast fertig vorbereitet hat, auch recht leicht selbst herstellen. In einem meiner ersten Unisemester, in einem Praxisseminar, hat es unsere Dozentin innerhalb einer halben Stunde geschafft, uns diese Fähigkeit, ohne jegliche Vorkenntnisse

Microskopische Ultranahaufnahme.

Ein Ausschnitt der Z-Drehung des Fussels in Vergrößerung.

beizubringen. Man kann mit verzwirntem Bast stabile Taschen, Netze, Gewebe, Körbe, Fallen oder gleich ganze Boote bauen. Man kann sich auch eine Matte fertigen, die man architektonisch verwendet, z.B. um sich draufzulegen. Die Möglichkeiten diese Textilen einzusetzen sind also sehr weitreichend – und leider werden wir nur mit dem jetzt gefunden Fussel nicht herausbekommen, wofür genau die Neandertaler vom Abri du Maras ihren Bast verzwirnt haben.

Wie sensationell ist der Fund dieser Fussel?

Tatsächlich ist die Anwesenheit von Textilen in dieser Zeit gar nicht so überraschend, wie man meinen mag. Nicht nur, dass es schon andere indirekte Textilfunde aus der Zeit der Neandertaler gibt– da währen zum Beispiel durchlochte Muschelperlen, deren Löcher ja irgendeinen Sinn gehabt haben müssen. Nein, auch die Kleiderlaus gibt es schon lange. Die erfordert zwar nicht zwingend die Anwesenheit von Kleidung, aber sie braucht die menschliche Körperwärme zum Überleben. Und gerade in Eiszeitaltern hat es für diesen Lebensraum also eines gebraucht: Kleidung. Und nicht zuletzt brauchten ja auch die Menschen in den Eiszeiten ihre Körpertemperatur zum Überleben, was ebenfalls für die Anwesenheit von Kleidung spricht. Zudem sind Werkzeuge bekannt, welche so geformt sind, dass man vermutet, man hat sie zum Herstellen von Kleidung

Ein Neandertaler. Er hat seinen Kopf auf seine Faust gestützt und schaut grübelnd in die Welt. Er hat einen Dreitagebart und eine Kurzhaarfrisur.

Neandertaler waren also nicht so Nackig wie auf dieser Darstellung aus Halle.

verwendet. Dass auch Gebrauchsgegenstände aus Bast gefertigt wurden, ist wenig überraschend, da Holz die Menschheitsgeschichte schon viel länger begleitet. Dabei Bast als Werkstoff zu entdecken, ist absehbar. Aber: Der Fund erstaunt dennoch, denn zum einen war die bisher älteste erhaltene Schnur nur 18.000 Jahre alt – dass man nun einen Fussel gefunden hat, der fast dreimal so alt ist, ist also tatsächlich ein neuer Einblick in die Details der Textilproduktion zur Zeit der Neandertaler. Zum anderen sind wir alle geprägt von einem Bild der Neandertaler, als Idioten der Menschheitsgeschichte. Erst seit etwa 2 Dekaden wird mit diesem Bild aufgeräumt. Die nun bewiesenen Fähigkeiten der Textilherstellung, sind ein weiterer Baustein darin, sich der Lebenswelt der Neandertaler auf Faktenbasis nähern zu können und dabei lang gehegte Stereotype ein Stückchen mehr beiseitezulegen. Von daher ist der Fund dieses Fussels ein tolles Geschenk für das Verständnis der Menschheitsgeschichte.

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Literatur:

Bruce L. Hardy, Marié-Héléne Moncel und Jörg Fündling: Zwirn und Faden bei den Neandertalern. In: AiD 05/2022.

Gisela Grupe, Kerrin Christiansen, Inge Schröder und Ursula Wittwer-Backofen: Anthropologie – Einführendes Lehrbuch 2. Auflage, Heidelberg 2012.

http://www.museum-albersdorf.de/bast/zwirnendolchscheide.htm

https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(03)00507-4?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0960982203005074%3Fshowall%3Dtrue

https://www.nature.com/articles/s41598-020-61839-w