Ein 1.200 Jahre altes Dingsbums

Manchmal ist es ein bisschen verrückt – Es wird ein Objekt gefunden und wir Archäolog*innen quatschen drauflos, was das ist. Wer das Fach nicht studiert hat, fragt sich „Wovon reden die – was für ein Ding wurde gefunden? Woher wissen die das eigentlich, was das ist“. Und es gibt Objekte, da kratzen wir uns auch am Kopf und wissen nicht, was es ist. Deswegen heute die Geschichte von einem 1200 Jahre alten – ja keine Ahnung, was es ist, aber es wurde gefunden:

Also worum geht es überhaupt?

Es handelt sich um ein Silberobjekt der Wikingerzeit. Sondengänger haben in der Nähe von Langham in Norfolk den Gegenstand gefunden. Und man kann deutlich erkennen, dass diejenigen, die das Ding gefertigt haben, offenbar sehr gut in ihrem Handwerk qualifiziert gewesen sind. Auf dem Silberobjekt ist ein Tier abgebildet.

Eine Art Silbern-Goldene Kappe mit feinen schnörkeln und einem Pferd in der Mitte.

Das ist das Objekt (Bild: Andrew Williams ((Norfolk County Council)).

Es könnte ein Pferd sein, dass hier gezeigt wird. Eine besonders feine Arbeit bedenkt man: Das Objekt hat nur einen Durchmesser von 19 mm. Das heißt, es wurde mit größter Sorgfalt hergestellt. Wenn man eines über das Objekt mit Sicherheit sagen kann ist: Es wurde von jemanden hergestellt, der handwerklich geschickt war und ein liebevolles Auge für Details hat.

Worum handelt es sich

Wie gesagt, das ist unklar. Es könnte eine Art Beschlag gewesen sein, der irgendwo abgefallen ist oder eine Kappe. Der runde Silberzylinder ist auf jeden Fall im Laufe der Jahrhunderte etwas verbogen. Das tut der Schönheit des Objektes aber keinen Abbruch. Aber weil das Objekt so filigran ist, könnte es sein, dass es eine Art Schmuck gewesen ist. Oder ein Aufsatz von etwas. So ist es bei einigen Funden.

Ein rundes Beschlagblech, dass mit spiralen verziert ist, und an dem vier Anhänger hängen. Alles besteht aus Bronze.

Das ist der Beschlag eines bronzezeitlichen Hockers – wenn man nur dieses Ding findet, muss man auch erstmal drauf kommen, dass es zu einem Klappstuhl gehört (Archäologisches Museum Hamburg (CC BY-SA 3.0)).

Hätte man z. B. bronzezeitliche Klappstühle nicht als ganzes gefunden, würde man bis heute rätseln, was das für seltsame Metallkappen sind, die damals dekoratives Element des Reisemöbels waren. Genau so ein Rätsel ist nun auch das 1.200 Jahre alte Dingsbums aus Langham.

Wenn man nicht weiß, was es ist, woher weiß, man wie alt es ist?

Das Objekt stammt aus der Zeit der Wikinger. Es wurde im 8. oder im 9. Jahrhundert angefertigt. Und das habe ich und vmtl. auch das Kollegium in England auf den ersten Blick gesehen. Wie? Ganz einfach, es gibt die Tierstilornamentik. Diese Darstellungsweise war damals modern – quasi der Schick dieser Zeit. Und man lernt im Studium ungefähr einzuordnen, wann was Mode war. Und diese Mode passt relativ in das frühe Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und der Wikinger, eben dem 8. und 9. Jahrhundert – Es handelt sich vmtl. um ein sächsisches Schmuckstück.

Zwei über und über inneinander verknotete Tiere. Es ist nur noch ein Knote zu sehen und nicht mehr die Tierart.

Vor lauter Knoten ist kaum noch etwas anders zu erkennen – Tierstilonamentik aus Skandinavien, aus der Vendelkultur, also etwa 100- 200 Jahre älter als der Fund aus Norfolk. Es ist deutlich zu sehen: Die Mode ist ähnlich, aber nicht gleich (Grafik nach Stolpe).

Die verschlungenen Tiermuster waren zwar schick, haben sich aber in den Regionen und im Laufe der Zeit etwas unterschiedlich entwickelt. Wenn man sich damit auskennt, dann übt man seine Augen darin, das auseinander zu halten. Mit einem geübten Auge kommt man relativ schnell zu einer groben Einordnung eines Gegenstandes. Und weil diese Art der Datierung anhand von Stilformen oder genauer gesagt Typen, nie genau ist, nennt man das Relative Chronologie.

Was bitte, eine Relative Chronologie?

Hierzu eine kleine Anekdote: Ich habe, wegen meiner Legasthenie, jemanden Fachfremdes eine Hausarbeit auf Rechtschreibung gegenlesen lassen und die Person hat mir „Relative Chronologie“ als falsch angestrichen, weil in der Wissenschaft nichts relativ ist. Und – nun ja – Das ist falsch! In der Archäologie ist die Relative Chronologie ein Fachbegriff für diese erste ungefähre Einordnung. Es war sogar lange Zeit die einzige Datierungsmethode, die es gab.

Eine lange Vitrine mit sehr vielen Objekten. Darüber steht jeweils eine Kultur.

Im Studium lernt man typische Formen für jede Kultur kennen. Hier sind solche Typentafeln mit echten Funden abgebildet. Genau so sieht es auch in unseren Lehrbüchern aus, und wir lernen so anhand von Objekten eine Kultur relativ genau zuzuordnen (Das Bild habe ich im Landesmuseum für Vorgeschichte in Kassel gemacht).

Wir können in der Archäologie eben nicht immer exakt und genau messen. Deswegen geben wir auf diese Art einen ungefähren Zeitrahmen an und machen eine relative Einordnung. Das macht die Archäologie besonders – sie ist sich während der Forschung ihrer eigenen Fehlbarkeit bewusst. Man sagt im Moment, der relativen Einordnung, dass es eben keinen Anspruch auf Exaktheit dieser Einordnung gibt, oder dass diese Einordnung die einzige Wahrheit ist. Das gilt für viele Bereiche des Faches. Für die Interpretation dieses Objektes zum Beispiel.

Also ist das jetzt ein Schmuckstück mit einem Pferd, oder nicht?

Jein – es ist ein Silberdings mit einer Darstellung, bei der es möglich ist, sie als Pferd zu interpretieren. Und das ist eigentlich schon Interpretation, man kann vielleicht auch einen Hund in der Darstellung sehen, aber Pferd ist durchaus plausibel. Tatsächlich ist es ein Glücksfall, dass eine solche Darstellung aufgetaucht ist, denn man sieht hier, wie vor 1.200 Jahren mit Farben umgegangen wurde. Funde, auf denen man das erkennen kann, sind echt selten.

Zeichnung des Fundes mit Maßstab 1 cm.

Diese Zeichnung gibt das herausgearbeitete Relief wieder (Bild: Jason Gibbons (Norfolk County Council)).

Textilien, die ja vielleicht modisch gefärbt waren, sind beispielsweise mittlerweile vergangen, Bemalungen an Hauswänden ebenso. Oft kann man sich Farben in vergangenen Zeiten nur vorstellen. Wie es wirklich aussah, bleibt dabei Spekulation. Hier kann man aber noch deutlich erkennen, wie mit Farbreflexen schmuckvoll gearbeitet wurde und was die Mode dieser Zeit war, Farben miteinander ins Verhältnis zu setzen. Auch wenn wir nicht wissen, ob das Objekt vielleicht an einem viel farbenfroheren Objekt befestigt gewesen ist.

Kann man denn überhaupt irgendetwas, genaues über das Ding sagen?

Ja kann man! Man hat das Metall gemessen, und dabei kam heraus, dass bei der Herstellung Quecksilber mit Goldstaub vermengt wurde. Das wurde dann aufgetragen, um das Pferd farblich herauszuarbeiten. Da ist nicht einfach nur handwerklich sehr geschickt – hier war ein Multitalent am Werk!

Eine hell goldene Kappe, die einem Schraubverschluss ähnelt. Auf ihr ist ein Pferd oder Hund abgebildet.

Hier noch einmal der Blick von allen Seiten auf dieses filigrane Objekt (Bild: Andrew Williams ((Norfolk County Council)).

Diese Technik wurde in dieser Zeit nämlich eigentlich nicht für die Herstellung von Schmuck genutzt, sondern für die Herstellung von Vergoldungsflüssigkeit. Das ist eine Art Tinte, mit der damals Schriften verziert wurden. Das heißt, wer auch immer dieses Objekt hier gefertigt hat, wusste wie man Schriften erstellt.

Was für Schriften gab es damals?

In der Zeit vor 1.200 Jahren liegt zum Beginn des nordeuropäischen Christentums. Das heißt, in der Hauptsache gab es religiöse Texte. Und zwei dieser Texte fallen auf, denn sie sind in der Art wie die Ornamentik gestaltet ist, dem Dingsbums ähnlich. Es handelt sich um das 1.200 Jahre alte „The Book of Kells“ und die 1.300 Jahre alten „Lindesfarne Gospels“. Das ermöglicht eine genauere Einordnung des Objektes.

Eine Darstellung von Maria mit Baby auf dem Arm. Drumherum sind Tierstilornamente.

„The Book of Kells“ – Darstellung von Maria mit dem Jesuskind.

Aber nicht nur das ist interessant. Man konnte feststellen: Das Quecksilber kommt aus Spanien. Es war also importiertes Material. Und ja – in dieser Zeit entwickelte sich gerade das große weit gefasste Handelsnetz der Wikinger und weite Kontakte waren immer normaler – aber es muss trotzdem teuer gewesen sein. Das spricht dafür: Das Dingsbums hatte eine besondere Bedeutung.

Und was könnte das Dingsbums gewesen sein?

Das kann man wirklich nicht genau sagen, was es war. Ich werfe meinen Vermutungshut in die Runde und sage: Es ist die Kappe eines besonders edlen Klappstuhles. Von den lokalen Archäolog*innen in England gibt es die Vermutung, es handele ich um die Kappe eines Stabes. Ein Problem ist bei der Interpretation leider auch: Der Fund wurde von Schatzsuchern gefunden. Das heißt, der Zusammenhang fehlt und das erschwert die Interpretation. Allgemein ist nichts gegen das Hobby, mit einem Metalldetektor auf die Suche nach historischem zu gehen, zu sagen.

Umzeichnung des dargestellten Musters

Hier noch einmal eine Darstellung, auf der das Tier gut zu erkennen ist (Bild: Jason Gibbons (Norfolk County Council)).

Doch leider gibt es dabei auch schwarze Schafe, die mit der Archäologie nicht gut zusammenarbeiten. Wenn bei denen einen Metalldetektor anschlägt, wird oft wild drauflos gebuddelt. Dadurch gehen die Fundzusammenhänge verloren und man hat am Ende einen Fund, dem der Kontext, also die Geschichte, fehlt. Und das ist schade, gerade in diesem Falle, wo ein Objekt gefunden wurde, das in dieser Form bislang einzigartig ist.

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Literatur:

https://www.bbc.com/news/uk-england-norfolk-67750556

https://www.smithsonianmag.com/smart-news/this-lovely-anglo-saxon-artifact-has-baffled-experts-180983536/