Schlangenlinien mit dem Auto, durch die Kretische Berglandschaft. Immer die Küste entlang – irgendwann gibt es sogar ein Stück Autobahn und dann bin ich da. Sitia. Meine Erwartungen sind gar nicht so ausgeprägt, eigentlich bin ich nur hier her gefahren, weil ich dachte, dass man das ja mal tut könnte. Nur einen Tag Zeit, dann muss ich weiter, aber so mag ich Reisen am liebsten. Einfach mal ungeplant irgendwo landen.
Und irgendwie ärgere ich mich so spät losgefahren zu sein, dass ich nur noch ein Stück vom Nachmittag mitbekomme und etwas Abend. Das Hauptproblem ist: Die Straßen schlängeln sich nicht nur um die Berge, sodass alles viel weiter voneinander weg ist als es auf der Karte wirkt, nein man muss Vorsichtig sein, beim fahren, der Straßenbelag ist nicht immer der Beste. An einer Stelle schien sogar kurz zuvor die Straße an einer Steilküste ins Meer gestürzt und notdürftig repariert zu sein.
Ein solcher Weg dauert gut und gerne doppelt so lange wie gedacht. Und so bleibt mir weniger von Sitia als erhofft. Aber immerhin ich bin da.
Ein gemütliches Nest aus der Tiefe der Geschichte
Gleich zu beginn finde ich einen Pavillon am Hafen, in dem ein besonderer Fund aus Palaikastro ausgestellt ist. Es handelt sich um eine Art Sonnenuhr aus minoischer Zeit. Die Steinplatte ist Kreisförmig und mit einem Strahlenkranz verziert. Auf dieser Platte befinden sich Symbole welche nicht nur aus Palaikastro, sondern auch aus Sitia selbst bekannt sind. Auch einige Funde werden in dem Pavillon ausgestellt, zudem widmet er sich der Linear A Schrift. Diese, bis heute nicht entschlüsselten Symbole zieren zum Beispiel den Diskus von Phaistos. Ein Artefakt, dass bis heute mehr Fragen aufwirft, als Antworten gibt. Die Linear B Schrift, welche ebenfalls minoisch ist, kann heute als entschlüsselt bezeichnet werden. In dem Pavillon am Hafen finden sich 500 übersetzte Symbole, welche sich der Betrachter ansehen darf. Merkwürdig ist jedoch, dass ich in der Fachliteratur keine Erwähnung dieses Objektes gefunden habe. Vielleicht, ist das ganze doch mehr Effekthascherei und Touristenköder als ein archäologisches Objekt. Vielleicht kenne ich aber auch nicht die richtige Literatur, weil meine Spezialgebiete in anderen Bereichen der Archäologie liegen.
Es gibt in Sitia neben Spuren der Minoer auch Spuren aus hellenistischer Zeit, vor allem aber fällt auf, es gibt ein riesiges geometrisch angelegtes Hafenbecken. Die Venezianer haben einen mächtigen Fußabdruck hinterlassen. Bis heute ist die Stadt streng geometrisch angeordnet. Die Spuren dieser Ära: die Art wie Städte in Häfen strukturiert wurden, um alles wirtschaftlich zu optimieren. Die Händler hatten dabei im Sinn, den größtmöglichen Profit zu erzeugen. Der Mittelmeerhafen von Sitia ist dabei deutlich größer und für ganz andere Schiffarten geeignet, als beispielsweise der gleichzeitig errichtete venezianische Binnenhafen von Desenzano. Bemerkbar macht sich das, an den Größendimensionen der Anlagen, welche für den Überseehandel, im Vergleich gigantisch ausfallen.
Venezianische Hafenlagen, sind ein hochinteressantes Thema, und vielfach unerforscht. Als ich versuchte habe für diesen Artikel Literatur aufzutreiben, ist mir etwas interesantes aufgefallen: Der Ort Sitia war zu beginn des 20. Jahrhunderts für die Erforschung der Insel Kreta, anscheinend nicht von ausreichender Wichtigkeit, als das groß über ihn geschrieben würde. Der Geologe und Geograph Dr. Leonidas Chalikiopoulos schreibt 1903 sogar, dass er sich darüber wundert, dass es im gesamten Ostgebiet der Insel Kreta keinerlei Hafenanlagen gäbe. Tja weit gefehlt würde ich mal sagen. Und auch wenn wir eindeutig sehen können, dass das nicht stimmt, unterstreicht das eine Forschungslücke, welche nur darauf wartet geschlossen zu werden. Denn immerhin sind die Häfen Sitia, Chania und Rethimon drei der Haupthäfen der Venezianer auf Kreta gewesen. Alle drei Häfen wurden an bereits bestehenden Siedlungen gebaut und venezianischen Standards angepasst.
Chalikiopoulos nennt neben seinen Angaben aber den Ort Limin, der heute Sitia heißt, als Anlegepunkt, für Schiffe. Er beschreibt den Hafen, eben so, wie wir ihn heute sehen können, bemerkt aber nicht, dass es sich dabei um einen Hafen handelt. Er berichtet von einer großen Isolation dieser Gegend. Es scheint so, dass es aus längerfristigen wirtschaftlichen Problemen heraus und einem Mangel an kulturellen Austausch dazu kam, dass das Hafenbecken zu Chalikiopoulos Zeit, nicht gut zu erkennen war. Es war zur vorletzten Jahrhundertwende vmtl. insoweit verfallen. Was ist hier geschehen? Ich bin auf die Erkenntnisse kommender Arbeiten gespannt!
Das Auftreten von venezianischen Gebäuden und Anlagen auf Kreta überrascht jedoch wenig. Die gesamte Insel stand ab 1211 unter ihrer Herrschaft. Nach zahlreichen Konflikten zwischen den Venezianern und den Türken, wurde die Insel schließlich 1669 von den Türken erobert. Davor diente Kreta immer wieder als Fluchtpunkt für Christen, die vor den Türken geflohen sind. Sitia war eine christliche Siedlung, in der es eine bescheidene gotische Kapelle gab, die von den Venezianern 1336 gegründet wurde, und 1566 offiziell mit einem Bischof besetzt war. 1645 nach der Besetzung durch die Türken wurde dieses Gebäude in eine Moschee umgebaut.
Davor diente die Insel den Venezianern manchmal auch als eine Art Alcatraz. Zum Beispiel wurde Josepo Foscari, der Sohn eines Dogen, 1450 auf die Insel verbannt, nachdem ihm zunächst das Illegitime überreichen von Geschenken an fremde Mächte, und später dazu noch der Mord an einem Zeugen vorgeworfen wurde. Wirtschaftlich war Kreta vor allem für Salzabbau, Olivenöl, und die Getreideproduktion für Venedig interessant, da die Getreidepreise in den Italienischen gebieten teils stark schwankten, und Kreta in dieser Hinsicht ein sicherer Hafen gewesen ist. Gegen Ende der venezianischen Besatzung war die Insel allerdings mehr Militärsitz als Gefängnisinsel, denn die immer währenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Türken stellte eine immer größer werdende Bedrohung dar. Und die Insel Kreta, galt als der kostbarste Besitz der Venezianer.
Das Heute von Sitia
Heute scheint die 20.000 Einwohnergemeinde allerdings einige Probleme zu haben. Schnell wird mir klar, die Wirtschaftskrise gab es auch hier. Stellenweise trotzen liebevoll zurecht gemachte Ecken diesem Zeitalter, und immer wieder sehe ich daneben zerfallene Häuser und Kaputtes wieder zusammengeflicktes Zeug.
Das ist schade, wie immer wenn ich in Griechenland war, sehe ich dort diese Schicksale. Immer wieder finde ich zerfallene Gebäude und Frage mich, wie die Familie wohl hieß, die hier einmal gelebt hat. Wo sie jetzt wohl sind und ob es ihnen gut geht.
Die Opfer der Wirtschaftskrise, dass sind immerhin nicht diejenigen, die diese verursacht haben, sondern diejenigen, die es ohnehin schon nicht leicht hatten. Und das ist das eigentlich tragische an der griechischen Geschichte des letzten Jahrzehnts.
Aufstieg in eine andere Zeit
Wirklich interessant in Sitia ist das Kastell Kazarma. Es thront über der Stadt wie eine Akropolis, stammt aber ebenfalls von den Venezianern. Ursprünglich wurde an dieser stelle eine Wehranlage von Kreuzfahrern des 12ten Jahrhunderts errichtet, dann aber zur Zeit der venezianischen Besetzung im Sinne der Venezianer umgebaut. Ein Schriftverkehr aus dem Jahr 1316 belegt, dass in dieser Zeit begonnen wurde die Befestigung der Stadt vorzunehmen.
Es ist ein wirkliches Abenteuer dort hinauf zu gelangen. Die Straßen sind steil und immer wieder sind es Treppen statt Straßen. Aber ein hemmungslos schöner Ausblick ist die Belohnung. Wer das Kastell vo innen sehen will muss die seh kurzen Öffnungszeiten einplanen.
Vom leben zur Zeit der Besatzung
Die venezianische Herrschaft über Kreta begann nach der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1204 durch Kreuzritter. 450 Jahre dauerte diese Herrschaft an. Zunächst siedelten sich venezianische Adelsfamilien an, die keine Rücksicht auf die alten Ortsstrukturen nahmen. Das führte zu einer Diskrepanz der Lebensweise zwischen den venezianischen Städten und den kretischen Dörfern. Erst 1399 schlossen die Kreter mit den Venezianern ein Abkommen. Der Bau von Byzantinisch orthodoxen Kirchen, also der Religion, die die Besatzer mitgebracht hatten, begann aber erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts. So sind die Festungsbauten, meist die ältesten Spuren der venezianischen Herrschaft. In Sitia ist die gesamte Stadt auf die Festung hin angelegt worden. Hierbei ist zu bedenken, dass damals c.a. 3000 Besatzer einer Bevölkerung von 500.000 Inselbewohnern gegenüber standen. Diese Besatzung wurde mit Militärischen mitteln, also mit Gewalt aufrecht erhalten. Die Art wie Sitia angelegt ist, ist ein Relikt dieser Machtausübung.
Die Anlage der Kastelle diente also nicht nur der Sicherung des Seehandels, sondern auch als Schutz gegen die Inselbevölkerung. Die Venezianer beuteten die Landwirtschaft der Insel massiv aus – so kam es immer wieder zu Aufständen der Bauern und Hirten. In Sitia ist also eine Festung zu beobachten, die aus dieser frühen Phase der Besatzung stammt. Diese Festung wurde späterhin, im Gegensatz zu einigen anderen Festungen nicht mehr auf den neueren Architektonischen stand gebracht, welcher z.B. mit dem der Festung von Peschiera zu vergleichen wäre, sondern belassen wie sie war.
Ein Ausbau der Stadt in diesem Ausmaß hätte in Sitia allerdings auch keinen großen nutzen gehabt. Wichtig war der Überblick über das Meer gegen die Türken. Die inneren Konflikte, auf der Insel lösten sich mit der Zeit, denn die Venezianer brachten nicht nur Unterdrückung, sondern auch Wohlstand und Handel auf die Insel, die dadurch zu einem interkulturellen Schmelztiegel wurde. Diese Zeit endete abrupt mit der Besetzung durch die Osmanen.
Mit dem Ende dieser bunten Zeit verarmte die Insel und die Einwohnerzahl sank stetig, im 19. Jahrhundert sogar bis auf nur 80.000 Menschen. Und das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass das Hafenbecken zwischenzeitlich fast vergessen wurde.
Und wie ist es in Sitia mit Speis und Trank?
In der Zeit der venezianischen Besatzung, wurde der Zwieback erfunden. Ein Nahrungsmittel, dass gerade in der Seefahrt sehr wichtig wurde. im 16. Jahrhundert wurde dieser Zwieback nicht nur aus dem Inselgetreide von Kreta hergestellt, sondern er gelangt von hier aus auch als Handels und Versorgungsware auf die Schiffe. Zwieback war besonders haltbar, aber zur Sicherheit wurde in jede einzelne Scheibe das Jahresdatum der Herstellung gebrannt. Es gibt die Legende, dass nachdem die Türken die Insel erobert hatten, ein 150 Jahre alter Zwieback gefunden wurde. Die Haltbarkeit des Gebäcks war angeblich von überragender Qualität, und die Finder verspeisten den alten Zwieback und er soll noch geschmeckt haben.
Solltet ihr einmal im Sitia sein, braucht ihr allerdings nicht nach 150 Jahre alten Zwieback ausschau zu halten. Es gibt am Hafen zahlreiche Cafés und Restaurants. Unter anderem findet ihr hier einen Tortenbäcker, der einfach unschlagbar gute Torten macht. Mit etwas Glück erlebt man sogar noch das ein der andere Erlebnis der dritten Art.
Vielleicht komme ich eine Tages wieder
Ich erinnere mich nicht Oft an Sitia. Es ist kein besonders herausragender Ort, es ist nicht besonders groß oder besonders schön dort. Dennoch denke ich, dass ich vielleicht eines Tages wieder komme. Nicht nur um mir die Festung einmal genauer anzusehen, sondern, weil der Ort touristisch nicht so sehr überlaufen ist. Das heißt: Sitia wirkt nicht so aufgesetzt und übertrieben, wie viele andere Orte auf Kreta – es ist nicht so gekünstelt wie Knossos, nur nicht so ein Nepp wie Matala. Es ist ruhig, es gibt gutes Essen und eine wunderschöne Aussicht auf ein doch relativ einzigartiges Hafenbecken. Es gibt viele Treppen und Ecken an denen man sich einfach hinsetzen und Entspannen kann. Sitia ist also einfach herrlich normal. Und das ist eine Form von Luxus, den ich mag.
Literatur
Chalikiopoulos, Leonidas Chalikiopoulos, Sitia. die Osthalbinsel Kretas – Eine geographische Studie, Veröffentlichungen des Instituts für Meereskunde und des Geographischen Instituts an der Universität Berlin; Heft 4, Berlin 1903
http://www.cretesitia.gr/index.php/de/sight-seeing-archeological-sites/antike-astronomie
Besonders empfehlenswert für die Arbeit über venezianische Kolonien:
Georgopoulou, Maria Georgopoulou, Venice´s Mediterranean Colonies – Architecture and Urbanism, Cambridge 2001
Reimann, Jörg Reimann, Venedig und Venetien 1450 – 1650 – Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und Kultur, Hamburg 2006
Guter Überblick über die Geschichte Kretas:
Schneider, Lambert Schneider, Kreta – 5000 Jahre Kunst und Kultur: Minoische Paläste, byzabtische Kapellen und venezianische Stadtanlagen, Ostfildern 2006