Das erste Flugzeug landete wieder in Athen, nach den großen Protesten am 5. Mai 2010. Es war einer der außergewöhnlichsten Flüge, die ich jemals erlebt hatte*. Erst die Erleichterung, dass überhaupt ein Flieger da war. Fast ausgelassene Stimmung. Athen rückt näher, die Anspannung steigt. Eine Stewardess versucht Menschen zu beruhigen. Es waren Menschen gestorben, vor wenigen Stunden und in den Straßen tobt der Aufstand. Ein Flug in ein ungewisses Land.
Was zuvor geschah
Als ich mich mehrere Monate zuvor in Athen für ein Praktikum beworben hatte, hatte ich nicht damit gerechnet Augenzeugin der griechischen Tragödie des jungen Jahrtausends zu werden. Eigentlich hatte ich noch nicht einmal mit einer Antwort auf meine Bewerbung gerechnet. Diese kam, lange vor dem 23. April, dem Tag an dem Griechenland pleite ging. Am 2. Mai haben dann, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds knapp 300 Milliarden Euro in Form von zinsgünstigen Kredithilfen an das Land vergeben. Das war an hohe Auflagen gebunden. Die Memoranden. Ein Katalog der Einsparungen vor allem im sozialen Sektor Griechenlands vorgesehen hatte. Am 5. Mai 2010 kam es deswegen zu einem Generalstreik, der fast in einem Aufstand gipfelte. Und am 6. Mai kam ich in Athen an.
Es herrscht eine merkwürdige Normalität bei der alle Beteiligten wussten, das nichts normal war. Freundliche Gespräche mit fremden Leuten im Bus. Aus den Cafés dröhnt der angehende Sommerhit Alors On Danse von Stormae. Mit der Tiefe des Großstadtgewimmels steigt die Anzahl zerstörter Fensterscheiben, verbrannter Autos, Polizei. Rudelweise Menschen, die vor Zeitungskiosks stehen, und die Schlagzeilen, der an Wäscheleinen aufgehängten Zeitungen lesen. Athen, ist eine laute Stadt, es gibt nie einen Moment, an dem es einmal still ist. Immer ist irgendetwas in Bewegung. Skooter knattern durch die Straßen. Mittlerweile ist bekannt, dass es drei Menschen waren, die am Tag zuvor bei den Protesten verstarben. Angestellte einer Bank, die trotz des Generalstreikes bei der Arbeit gewesen sind. Irgendjemand hatte die Bank angezündet. Die Bilder sind in allen Zeitungen.
Einen Tag später, an dem Tag an dem im Brüssel der Euro gerettet wurde, beziehe ich mein neues Büro. Ein ekelhafter Brandgeruch. Verbranntes Holz, Plastik, verbranntes Fleisch. Also Fenster auf. Der Blick aus dem Fenster zeigt die Ursache: über das Dach des nebenstehenden Hauses hinweg, keine 50 m entfernt blickt mich DIE Bank, aus leeren rußverklebten Fenstern an, wie die Augenhöhlen eines Schädels. Später gehe ich dort hin. Ich finde viele, sehr viele Menschen. Ein Blumen- und Kerzenmeer, überall Kameras und das seltsame Gefühl, dass die Autos die an dieser Straße entlang fahren absolut keine Geräusche mehr machen, sobald sie näher kommen. Eine alles zu erstickende Stille erfüllt die Gegend. Menschen die versuchen zu verstehen, was eigentlich passiert ist.
Ich kam um Geschichte zu studieren und um mich herum passierte Geschichte.
Ich hatte meinen Reiserucksack vollgestopft mit Büchern. Die Idee: Die Fachlektüre bei den Stätten selbst lesen, um alles besser zu verstehen. Die Akropolis nicht nur ansehen, sondern vor jedem einzelnen Stein innehalten und nachlesen, was es dazu zu lesen gibt. Doch alles ist überdeckt von der einen beherrschenden Frage, wie soll es weiter gehen. Da fällt die Konzentration schwer, nach einem Tag Akropolis kam ich zu dem Schluss, dass das was gerade geschah, selber auch einmal Geschichte sein würde. Schließlich lerne ich Menschen kennen, die auf die Fragen der Zeit schon eine Antwort gefunden haben. In einem kleinen Café. Eine Clique, die sich dort regelmäßig trifft, und zu der ich in kürzester Zeit gehöre.
Während im gefühlt fernen Europa Rettungsschirme beschlossen werden, sammeln meine neuen Freunde Geld und Medikamente auf der Straße, gemeinsam mit einer Ärztin, die Kranke behandelt, die keine Versicherung haben. Sie organisieren eine Suppenküche auf der Straße und helfen in einer selbstorganisierten Schule. „Faule Griechen“ schreiben die deutschen Zeitungen dieser Tage, in denen ich mich schäme, wenn mich jemand Fragt wo ich her komme. Und mehr als einmal, muss ich mich für Beleidigungen aus der Presse, und die Stinkefingeraphrodite aus dem Focus rechtfertigen.
Unerträgliche Armut
An der Straßenecke, vor diesem Kiosk kniet Tag ein, Tag aus ein Mann, der eine Gummitomate auf ein weißes Brett wirft. Diese zerplatzt, zieht sich binnen kürzester Zeit wieder zusammen zu einer Tomatenform, und der Mann wirft sie wieder auf das Brett. Tag ein, Tag aus. Ein Stück weiter am Syntagmaplatz, vor dem Parlament, tummeln sich die Händler. Taschen und ähnliches sind auf Planen gelegt. Die Ecken der Planen sind quer mit einem Band verbunden. Ein Schrei ertönt über den Platz. Die Männer greifen die Bänder auf den Planen, so ist die Ware in einem Sack gefangen. Dann rennen sie, mit den Säcken auf den Schultern los. Blindlings, über die viel befahrenen Straßen direkt vor dem griechischen Parlament. Links und rechts, überall Polizei. Eine Razzia und ich mitten drin. Erst Panik, ich zählte 69 Männer, die mich auf ihrer Flucht fast umgerannt haben. Dann sind alle verschwunden. Nur ein einziger schwarzer Mann sitzt völlig unbeachtet am Boden. Er saß immer dort, in der gleichen zusammengesackten Körperhaltung. Große Wunden an den Beinen aus denen Eiter tropfte. Schon länger bohrte in mir die Frage, ob er tot sei. Aber das zu überprüfen traue ich mich während der Razzia nicht. Die Polizisten lassen ihn einfach achtlos liegen. Bis zu meinem letzten Tag in Athen lag er dort, meine Angst war bis zum Schluss zu groß ihn anzusprechen.
Auf der Suche nach der griechischen Realität bemerke ich vor allem eines: bettelnde Kinder. Sie verkaufen einzelne Packungen Taschentücher, oder spielen Musikinstrumente in den Touristengebieten. Ein Junge, etwa 5 und ein Mädchen, sie ist vielleicht 7, fallen mir auf, als sie lautstark aus einem Restaurant fliegen. Ein Restaurant weiter sitzt eine englische Dame, die sie auffordert zu ihnen zu kommen. Sie lässt das Mädchen auf ihrer Ziehharmonika spielen während sie isst. Im gönnerischen Gutsherrenstil, dirigiert sie zwischendurch mit erhobenen Zeigefinger mit, sie steckt dem Kind pro Lied 2 € zu. Schließlich können die Kinder mit reichlich Geld in der Tasche davon ziehen. Wie leben diese Kinder? Ich folge ihnen unauffällig in Gebiete Athens, in die sich sonst kein Tourist verläuft. Spuren von Menschen, die in Parks leben. Schlafsäcke und Decken versteckt hinter Büschen. Romafamilien die auf LKWs wohnen, gemeinsam mit Sachen, die sie verkaufen wollen. Bis zur Unkenntlichkeit verstaubte Autos. Ihnen fehlen Teile. Hier ein Spiegel, dort ein Licht. In der Nähe: Ein Geschäft für gebrauchte Autoteile.
Verfallene Häuser, hier und da leise Geräusche. Als ob mich jemand beobachtet. Kinderstimmen in einer Bauruine. Ein Geräusch aus einem Gebäude, von dem eindeutig mehrere Stockwerke eingestürzt sind. Notdürftige Balken stützen die Hauswand. Das Gebäude hat noch zwei Stockwerke, und im Oberen versteckt sich ein Mann hinter einer Gardine als er mich bemerkt. Ein Stück weiter, ein ausgebranntes Haus. Kein Dach, keine Fenster. Es war einmal ein schönes Haus, das ist noch deutlich zu erkennen. Ein Blick durch eines der rußigen Löcher, dass einmal ein Fenster war. Allerlei verbrannte Trümmer eines einst stattlichen Zimmers. Müll, und noch mehr Müll. Dazwischen mindestens 10 frisch bezogene Matratzen, eine Tüte mit frischen Einkäufen, und Kinderspielzeug. Eine Wiege, eine Packung frische Windeln.
Athen ungeschminkt
Der IWF beschließt am 10. Mai ein Rettungspaket. Die Nachricht ist noch nicht bis zu mir durchgedrungen, als ich eine Erfahrung mache, die ich in meinem Beitrag zu #MeToo schon ausführlich beleuchtet habe. Am nächsten Morgen kam die Kunde von dem Rettungspaket. Gleichzeitig die Kunde neuer Sparmaßnahmen. In den Gesichtern der Menschen auf der Straße steht vor allen eines geschrieben: Angst. Es sammeln sich Menschentrauben vor den Kiosken. Warten darauf, dass die neuen Zeitungen mit Wäscheklammern aufgehängt werden. Hunderte Menschen starren gebannt auf den Kiosk am Syntagmaplatz. Leises Gemurmel von einer Frau, die umherläuft und versucht einzelne Papiertaschentücher in der Menschentraube zu verkaufen. Schließlich bleibt auch sie stehen und starrt auf den Zeitungsverkäufer, der nun eine Zeitung neben der anderen platziert. Fassungslosigkeit, erstarrte Gesichter. Eine unheimliche Stille. Bis plötzlich eine Frau beginnt zu schreien. Sie fällt einfach um, liegt da, auf dem Boden zwischen den ganzen erstarrten Leuten. Sie schreit, als würde jemand versuchen sie aufzuspießen. Ein lauter verzweifelter nicht endender Schrei, der sich irgendwann in Tränen verwandelt. Um sie herum mindestens hundert Menschen die vollständig wortlos einfach nur geradeaus starren. Unfähig irgendetwas ausrichten zu können. Hilflosigkeit und die spürbare Angst, was wohl als Nächstes passieren wird.
Am nächsten Abend nimmt Janis** aus der Café-Clique mich auf seinem Skooter mit. Eine ganz private Stadtführung, Athen ungeschminkt. In Hochgeschwindigkeit fliegen bunte Lichter an uns vorbei, und Janis zeigte mir schöne Gebäude und coole Plätze. Rasant donnern wir am Ende in eine Gegend, in der es düster ist. „Du willst das echte Athen sehen, okay, aber dann musst du auch das sehen! Erzähle es deinen Leuten, erzähle es in Deutschland, was hier passiert.“ Um uns herum stehen dutzende Schwarze Frauen. Knapp bekleidet, stark geschminkt, wartend. „Sie alle sind geflohen, die Menschenhändler nehmen ihnen ihre Papiere weg oder drohen ihnen und hier müssen sie anschaffen. Das ist menschenunwürdig. Erzähl das in Europa. Diese Ausbeutung der Frauen muss aufhören. Wir sind hier an der Grenze der EU, hier kommen die Leute an. Aber wir können uns nicht alleine um so viele Leute kümmern, wir tun unser Bestes, aber wir schaffen es nicht mehr. Nicht in einer Wirtschaftskrise. Und jetzt halt dich fest, wir müssen hier schnell wieder weg. Es ist zu Gefährlich hier.“ Wir knatterten in einem Affenzahn wieder davon. Später im Café erzähle ich von der Frau die schreiend umgefallen ist.
Morgens werde ich auf dem Weg zur Arbeit aufgehalten. Der Grund, die Sicherheitslage hatte sich geändert und das Hostel in dem ich zu diesem Zeitpunkt übernachte klärte die Bewohner*innen auf, was ich nun beachtet werden sollte. „Yesterday a Bomb did explode in Athens, I have the order to tell you, that you are not in danger.“ „I did not expect to be in danger“ antwortete ich gelassen. „So don´t worry, this Bomb was just a warnig“ ein merkwürdiges glitzern überfiel die Augen des Mannes, mit dem ich redete. Dann legte er einen Stadtplan auf den Tisch. „I only want you, not to go in special parts of Athens, because it is maybe dangerous there.“ Er kreist Gebiete auf dem Stadtplan mit dem Kugelschreiber ein. „Sure“, sage ich und gehe Los, in der stillen Vermutung, schon an vielen dieser verbotenen Orte gewesen zu sein.
Selbsthilfe auf griechisch
Ich beschließe die Orte aufzusuchen, an denen sich die Griechen selber helfen. Besonders interessant, selbst organisierte Schulen. Ein Freund hatte mir das so erklärt: „Wir haben keine Arbeit und viele jugendliche keine Ausbildung. Also können wir unsere Zeit auch sinnvoll nutzen und selber berufsbildende Kurse anbieten.“ Trümmer einer Tafel liegen in der Ecke des Raumes. Als ich mich erkundige, was passiert sei, bekomme ich eine knappe Antwort: „Ach eine Razzia, nicht weiter tragisch“. Nach den Protesten und den Toten der vergangenen Tage, hatte die Polizei einige harte Aktionen durchgeführt, die hier als Strafaktionen verstanden wurden. Dabei hatten sie in einem Griechischkurs die Tafel zerstört. „Aber alle Schüler sind entkommen“. Sagte eine Frauenstimme auf einmal merklich stolz. Ich drehe mich um, eine kleine etwas dickliche Frau mit einem Gipsarm: „Ich konnte die Polizei lange genug aufhalten.“ Die kleine Frau strahlt weiter über beide Ohren, und verkündet, sie würde so lange unterrichten, wie sie wolle, und das niemand das recht hätte ihren Unterricht zu stören. Woher nehmt ihr diese Kraft, frage ich als ich am selben Abend mit den Freunden aus dem Café zusammen sitze. Die Antwort lag nahe. Es bleibt gar nichts anders übrig als selber machen, wenn man in einer Wirtschaftskrise halbwegs würdig leben möchte.
Janis begleitet mich an diesem Abend noch ein Stück auf meinem Weg und ergänzt: All das wäre nicht so gut organisiert gewesenen, wenn nicht zwei Jahre zuvor das Land von einem anderen Unglück heimgesucht worden wäre. Am 6. Dezember 2008 wurde auf offener Straße Alexandros Grigoropoulos erschossen. Ein 15-Jähriger Junge, der das machte, was alle 15-Jährigen in Athen am Abend machen. Sie hängen in ganz bestimmten Straßen herum. Der Junge wurde von einem Polizisten erschossen, der dazu nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Damals hatten viele Athener das Gefühl, man hätte auf sie geschossen. Es hat schlichtweg und einfach niemand verstanden, warum die Polizei einfach so ein Kind erschießen kann. Für die einen war es das Gefühl es hätte der eigene Sohn gewesen sein können, oder der Neffe, der Bruder oder man selber. Ganz Athen war damals auf der Straße und viele Menschen haben seit diesem Tag erst der Polizei und dann später auch dem Staat nicht mehr vertraut. Die Regierung gilt seit dem als eine, die auf die eigenen Kinder schießt. Der Tod von Alexandros hat aber noch soviel mehr bedeutet. Schon lange gibt es keine Arbeit mehr, schon lange zeichnen sich all die Probleme ab, die jetzt eskalieren. Es gibt in dieser Situation keine Zukunft. Das Gefühl war, erst zerstört die Regierung unsere Leben und dann schießt sie auf uns. Damals haben überall im ganzen Land, die Menschen angefangen sich in Nachbarschaftsräten zu organisieren. Sie haben Netzwerke aufgebaut, um ihre Leben selber in die Hand zu nehmen. Wenn Alexandros nicht gestorben wäre, dann hätten wir diese Grundlage nicht, die uns jetzt auffängt. Die Grundlage für eine Vernetzung, mit der wir vieles selber organisieren können. Erklärt mir Janis. Er bleibt abrupt stehen, und beendet seinen Monolog mit „Und genau da, wo du jetzt stehst, da ist er gestorben!“
Mal eben kurz nen Urlaub
Am Samstagmorgen klingelte das Telefon „Steh auf, wir fahren in den Urlaub“. „Was?“, entgegnete ich. Wenig später sitze ich in einer prall gefüllten Bahn auf dem Weg zu einem Ort, von dem ich bis heute nicht weiß wie er heißt. Die ganze Clique hatte kurzerhand die Sachen gepackt, um eine Nacht auf dem Land zu verbringen. In einem Ferienhaus an der Küste, dass den Großeltern von einem Freud gehört. Auf die Frage hin, was dieses „schnell nen Urlaub machen“ bedeuten sollte entgegnete eine Freundin, die Psychologie studiert hatte, mit diesem durchdringenden Blick, den nur Psychologen drauf haben, dass das doch vollständig logisch sei. „Es ist erst wenige Tage her, dass bei einem Generalstreik Menschen gestorben sind. Für nächste Woche wird der nächste Generalstreik geplant. Was ist, wenn dieses Mal nicht eine Bank, sondern das Parlament in Flammen aufgeht? Was ist, wenn die Krise uns so sehr schüttelt, dass wir sehr lange keinen Urlaub mehr machen können? Also machen wir es jetzt, dann können wir uns, egal was passiert, später an diese schöne Zeit erinnern.“ Kaum hat sie ihre Ausführungen beendet, ist es mit einem Mal stockfinster in der Bahn. Ein Tunnel. Wegen der Wirtschaftskrise wurde der Strom für die Lampen im Zug gespart. Am Dorfbahnhof angekommen, stehen wir vor dem Busfahrplan. Aber wieder die Wirtschaftskrise. Der Busverkehr ist eingestellt. Ein Trecker mit einem Anhänger kommt schließlich vorbei und nimmt uns und einige andere wartende mit. Das Dorf hat etwas Geld gesammelt, um so den weggekürzten öffentlichen Nahverkehr zu erhalten. Der Trecker brachte uns einige Stationen und der freundliche Bauer zeigt uns noch wo wir ungefähr lang laufen sollten.
Der Versuch echte Ferien zu machen beginnt. Wir gehen schwimmen und essen, albern herum, kochen, sehen uns Filme an und hören dem Mittelmeer beim Rauschen zu. Doch es fällt schwer die Situation, der wir zu entfliehen versuchten nicht anzusprechen. Unser selbst auferlegtes Verbot, für dieses Wochenende, über die Wirtschaftskrise nicht zu sprechen, schafft keiner auch nur eine halbe Stunde zu befolgen. Wir lenken uns ab, doch vor allem ein Thema dominiert schon seit Tagen alle Diskussionen. Wer hatte diese Bank angezündet? Die einen sind der Meinung, es waren einfach irgendwelche Idioten, andere vertreten die Auffassung, dass es Rechtsradikale gewesen seinen, die sich unter die Demonstranten gemischt hatten, um die Forderungen der Gewerkschaften in ein schlechtes Licht zu rücken. Wieder andere schämen sich und geben sich selbst die Schuld. Sie vertreten die Auffassung, dass sie selber, jeder einzelne Grieche mitverantwortlich sei an dem Tod dieser drei Menschen. Die griechische Gesellschaft und auch die Clique scheint über dieser Frage zu zerbrechen. Es steht mittlerweile weniger die Frage im Raum, wie man die Probleme im Land lösen könnte. Die Frage, wie geht man damit um, wenn drei Menschen bei Protesten verbrennen überschattet alle anderen Probleme zu diesem Zeitpunkt um Längen.
Trauer und Würde statt Revolution
Und diese Stimmung steigerte sich bis zu dem zweiten großen Streik, dem die Athener zum Teil mit Angst entgegensehen. Die Zeitungen mit den Wirtschaftsnachrichten werden zunehmend ignoriert, und wo man sich unterhält, gibt es dieses eine Thema. Wie konnte das passieren? Und dann kommt er: Donnerstag, der 20. Mai, der zweite Generalstreik. Ich bin wie jeden Tag am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Doch etwas ist anders. Im sonst so lauten Athen regt sich kein Lüftchen und das einzige Geräusch, dass ich höre, stammt von ein paar Tauben. Hier und da sind einige Ladenbesitzer zu sehen, die ihre Schaufensterscheiben notdürftig mit Kartons zukleben. Auf meinem morgendlichen Weg lasse ich wie immer den Syntagmaplatz hinter mir, und biege in eine Seitenstraße ein. An der Kreuzung höre ich mitten in dieser Stille ein merkwürdig kullerndes Geräusch. Einige Schritte, die bergab verlaufende einsame Straße hoch, bemerke ich, dass mir auf dem Gehweg ein Polizeischlagstock entgegenrollt. „Wo kommt der den her?“ denke ich und sehe mich auf der scheinbar Menschenleeren Straße um. Ich blickte direkt in den Lauf von einem Maschinengewehr. In etwa 10 Metern Entfernung steht ein Polizist in einem Gebüsch, und zielt direkt auf meinen Kopf. „Weiter den Gehweg entlang laufen“, sagt mein Instinkt mir, dass ich einfach nur so tun müsste, als ob nichts wäre. Doch den jungen Mann, der bedrohlich seine Waffe nach mir ausrichtet lasse ich nicht aus den Augen. Ich beginne mich auf das Gesicht des Mannes zu fokussieren. Er hat viel mehr Angst, als ich selber. Das beruhigt mich nur wenig, denn „ängstliche Finger zucken schneller“ kommt es mir durch den Kopf. So entspannt wie es mir möglich ist, laufe ich schließlich einfach direkt an diesem Mann im Gebüsch vorbei. Der noch auf mich zielt, als ich schließlich in eine Kreuzung einbiege.
Die Stimmung in der Stadt ist angespannt ruhig. Alle haben Angst, was an diesem Tag passieren würde. Durch mein geöffnetes Bürofenster dringen die Geräusche von dem Spektakel auf der Straße. In der Mittagspause gehe ich schließlich raus, um es mit eigenen Augen zu sehen. Noch nie zuvor, und auch nie danach habe ich so viele Menschen gesehen. Es ist einfach unmöglich sie zu zählen. Zwar sind alle Polizisten Griechenlands im Einsatz, aber sie verschwinden in dieser riesigen Menge einfach und sind nicht mehr zu finden. Es scheint als wäre wirklich ganz Griechenland auf dem Weg in Richtung Syntagmaplatz unterwegs. Und alle Demoteilnehmer*innen kommen an der ausgebrannten Bank vorbei. Und würde ich es nicht besser wissen, dann würde ich sagen, dass es bei dieser Demonstration einzig und alleine um diesen Ort geht. Jeder bleibt vor der Bank stehen. Jede politische Gruppe macht eine eigene Gedenkansprache. Schweigemitnuten im Minutentakt, und Gedenkreden am Fließband. Und nichts mehr was daran erinnerte, dass es bei diesen Protesten eigentlich um die Wirtschaftskrise geht. Wenn ich heute daran zurückdenke, hat mich das tief beeindruckt. Eine ganze Gesellschaft die sich reflektiert. In anderer Weise macht es mich auch sauer. Ich habe so viele Probleme in diesem Land gesehen. Und ein einziger Idiot schafft es mit einer einzigen Brandstiftung, dass all diese Probleme nicht einmal mehr von den eigenen Mitmenschen Gehör bekommen. Und während die Griechen versuchten ihre Tragödie in würde aufzulösen, wurde mir damals schlagartig klar, ich war Augenzeugin einer Revolution, die niemals stattfinden würde.
* Dieser Artikel spiegelt ausschließlich meine Eindrücke und Erfahrungen wider. Ein Mensch der Zeitgleich in Athen war, mag an anderen Orten andere Dinge gesehen und erlebt haben. Es ist ein Augenzeugenbericht aus einer subjektiven Perspektive
**Name geändert
Literatur:
https://rp-online.de/politik/ausland/der-23-april-2010-so-begann-die-krise-in-griechenland_aid-9645883
https://www.griechenland.net/nachrichten/wirtschaft/24256-nach-acht-jahren-offizielles-ende-der-griechenland-memoranden
https://griechenland-chronik.org/
https://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/114297.pdf
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/griechenland2438.html
https://rp-online.de/panorama/ausland/bombenexplosion-vor-gefaengnis_aid-12851749