Esens, eine gemütliche Stadt in Ostfriesland – die Nordsee ist hier nur noch 5 km entfernt. Und das merke ich Hamburger Stadtmensch deutlich am Geruch der Luft. Dass ich hier herkomme, höre ich an den Sätzen, die an mein Ohr dringen – hier wird Platt geschnackt. Eine Sprache, die ich als Butenfrees (Das sind Friesen die außerhalb der friesischen Regionen geboren und aufgewachsen sind) nur bruchstückhaft verstehe. Eigentlich bin ich also auf Familienbesuch, aber ich dachte ich nehme euch auf einen kleinen Spaziergang mit.
Ostfriesland ist ein Schmelztiegel der Nordseekulturen – Und so trügt der Schein nicht, wenn man denkt, dass alles schon ein bisschen niederländisch aussieht. Wer durch Esens spaziert bekommt schnell diesen Eindruck – gleichzeitig ist es aber auch manchmal ein bisschen englisch, ein Stückchen deutsch – Es ist eben eine ganz eigene typische Nordsee-Lebenswelt. Niedliche Häuser kuscheln sich aneinander, verschiedenste Geschäfte und gute Eisdielen machen den Tag angenehm. Wer sich Zeit nimmt, der kann die Bürger*innen der Vergangenheit gleich mit kennenlernen. An den alten Häusern sind Schilder aufgestellt – wer wann wo gewohnt hat, und wer wann welches Haus gebaut hat. Bei einigen Gebäuden gibt es über 100 Jahre alte Fotos zu bestaunen. Esens ist in gewisser Weise ein bisschen sein eigenes Museum.
Die Begegnung mit der Vergangenheit des Ortes bei einem gemütlichen Stadtbummel ist in gewisser Weise erfrischend. Gleichzeitig ist es auch eine Form der Wertschätzung der Esener untereinander, dass sie einander erinnern. Aber: Ein bisschen schade finde ich das auch. Denn es entsteht in mir der Eindruck, als wären meine Verwandten Teil einer Folkloregruppe in einem zu groß geratenen Freilichtmuseum. Dabei ist alles, was hier als teils exotisch begafft wird, inkl. der Sprache, Teil einer eigenen kulturellen Identität – Mein Eindruck ist, es gibt Touristen die das Vergessen. Menschen, die sich benehmen wie im Zoo – Aber den Eindruck habe ich ja quasi überall wo ich hinreise. Und weil viele Touristen aus Nordrhein-Westfalen nach Ostfriesland kommen, werden diejenigen, die sich akut daneben benehmen, von den Einheimischen auch gelegentlich mal als Nordrhein-Vandalen bezeichnet. Aber Besucher*innen sind dennoch herzlich willkommen, denn zu Ostfriesland gehört auch Gastfreundschaft. Und die allermeisten Weltenbummler*innen sind ja auch sehr respektvoll, sodass man hier tolle Begegnungen haben kann. Und das vor allem, weil Ostfriesen gar nicht immer so still sind wie ihr Ruf – erwähnenswert ist dabei das Esener Schützenfest. Doch Vorsicht – nicht alle Geschichten aus Esens sind so beschaulich wie der Ort selbst:
Das Bombentrauma von Esens
Ich kenne diese Geschichte schon fast mein ganzes Leben. Mein Vater hat sie mir erzählt. Und er kennt die Geschichte schon aus seiner eigenen Kindheit. Sie geschah in der Zeit, in der seine Eltern Kinder waren. Am 27. September 1942. Der Tag als Esens bombardiert wurde und 150 Menschen starben. Die Ideen, warum dieses beschauliche Städtchen bombardiert wurde, gehen heute auseinander. In der Gutenachtgeschichte, die mein Vater mir erzählte, wollten die britischen Bomber übriggebliebene Bomben ins Meer werfen, damit der Sprit nach Hause überhaupt reicht. Die kleine Stadt kurz vor der Küste sei dabei aus Versehen getroffen worden. Es gibt aber auch die Idee, dass eigentlich ein Angriff auf Emden geplant war, doch das norddeutsche Schietwetter hatte sich dem in den Weg gestellt. Als die britischen Bomber sich auf den Rückweg machten, riss die Wolkendecke über Esens auf – deswegen warfen sie ihre Bomben dorthin. Ich vermag nicht zu beurteilen, warum Esens bombardiert wurde – Aber wer eine genaue Analyse der Geschehnisse lesen möchte, dem empfehle ich den Autor Gerd Rokahr.
Dieser Angriff ist in das kollektive Gedächtnis des Ortes übergegangen – wie man an mir sieht, sogar in dritter Generation. Und das nicht nur, weil ein so kleiner Ort nicht damit gerechnet hat, und auch nicht, weil die Bombardierung ein Unfall war. Das Gebäude, das am schlimmsten getroffen wurde, war die Grundschule des Ortes. Die meisten Toten waren Kinder. Unter ihnen eine gesamte 3. Klasse gemeinsam mit ihrer Lehrerin. Der Stadtplatz war bei der Beerdigung voller Kindersärge – Es gab keine Familie im Ort, die nicht auch ein Kind hatte, dass auf diese Schule ging. Mein Vater schilderte mir dies in meiner Kindheit so lebhaft, als wäre er selber dort gewesen. Und er sagte dazu, dass im Krieg alle verlieren, aber am meisten die Kinder.
Von hungrigen Tanzbären
Auch wenn diese furchtbare Zeit Gott sei Dank vorbei ist, an einigen Stellen sind architektonische Narben zu sehen. Dennoch ist die Altstadt weitestgehend erhalten, wenn auch durchbrochen durch Neubauten. Alles in allem aber findet ihr in Esens einen Ort der traurige und glückliche Geschichten kennt, der einerseits modern ist und andererseits aber auch ein gepflegtes historisches Erbe hat. Und das trotz dessen, dass sich heute nur noch erahnen lässt, dass Esens einmal eine Burg gewesen ist. Auf dem Stadtplan ist noch zu sehen, dass es hier einmal eine starke Befestigung gab – Im Alltag fällt dies aber kaum auf.
Die bekannteste Geschichte aus dieser Zeit ist mit dem Esener Bär aber bis heute allgegenwärtig. Er ist das Wappentier des ostfriesischen Ortes und um ihn rankt sich die Geschichte einer Belagerung im Mittelalter. Vor Hunger war ein Tanzbär auf einen Stadtturm geklettert und hatte begonnen von dort aus Steine zu werfen. Die Belagerer nahmen fälschlicherweise an, die Esener hätten noch sehr viele Vorräte, immerhin konnten sie sich noch einen Tanzbären leisten. Sie zogen entnervt ab, und Esens wurde so von dem Tanzbären gerettet.
Tee, Tee und noch mehr Tee!
Heute steht Ostfriesland vor allem für Tee. Ich weis nicht, ob es stimmt, aber angeblich machen wir Ostfriesen 2% der deutschen Bevölkerung aus, verbrauchen aber 70% des gesamtdeutschen Teebedarfs. Anders gesagt: Wer Ostfriesland wirklich erlebt haben will, muss Tee trinken. In zahlreichen Teegeschäften wird man in Esens auch tatsächlich hervorragend mit allen Produkten rund um den Tee versorgt. Es gibt Teekannen, Tassen und natürlich auch den Tee selbst. Mein Tipp ist: Kauft nicht jeden Touristennepp, sondern schaut nach links und rechts was die “echten Ostfriesen” sich besorgen. Das kann auch mal ganz unterschiedlich sein. Zum Beispiel haben in meiner Familie fast alle eine Metallkanne und ich eine aus Keramik – vermutlich weil ich immer diejenige bin, die aus der Reihe tanzt. Die Diskussion was besser ist, ist am Ende sicherlich Geschmackssache. Klar ist aber, dass man einen richtig guten Tee in einer bauchigen Kanne zubereiten sollte und in einer der dünnwandigen Porzellantassen servieren – natürlich wegen des Aromas.
Wer das einmal so richtig original erleben möchte – aber keine echt ostfriesischen Gastgeber kennt, dem möchte ich zum Abschluss des Ausfluges nach Esens ein besonders schönes Ausflugsziel empfehlen. Es ist quasi kein Café – sondern ein Tee – also ein Ort wo es Tee und Kuchen gibt. Die Stadt-Schkür. Das ist plattdeutsch und heißt übersetzt soviel wie “Stadtscheune”. Ein historisches Gebäude, das spätestens seit 1851 als Viehmarkthalle benutzt wurde. Heute finden sich hier allerlei Historisches, mit der ostfriesischen Landwirtschaft und Geschichte verbundene Sammlungsstücke, in Form von einem wilden Durcheinander der Geschichte. Mitten drinnen kann man sitzen und wirklich nette Menschen servieren einen Tee. Alles ist so kitschig, dass es schon wieder schön ist. Fotos machen darf man dort leider nicht. Aber so bleibt es spannend für euch. Falls ihr mal einen Ausflug in diese Gegend macht, ich verspreche euch, dieser Tipp wird euren Tag mehr als abrunden.
Literatur:
https://www.ostfriesland.travel/sehenswuerdigkeiten/sehenswuerdigkeit/der-baer-das-wappentier-der-stadt-esens-esens
https://www.alleburgen.de/bd.php?id=18034