Scherben zusammen puzzeln ist wohl eines der Klischees der Archäologie. Aber eines, das zumindest weitgehend stimmt. Denn eine Scherbe kann manchmal ganz schön für Aufsehen sorgen. In der Presse wirkt es oft so, dass da ein paar Nerds drei, vier Scherben ausgegraben haben und sich drüber freuen, während niemand sonst versteht, warum denn die Freude über alte Töpfe so groß ist. Aber: Scherben können
allerhand. Zum Beispiel kann man an ihrer Form und ihrem Aussehen oft grob einordnen, in welche Zeit ein Fundplatz gehört. Oder aber es sind noch Anhaftungen an dem alten Geschirr und man kann ganze Speisepläne rekonstruieren. Im Falle der Minoer kann man aber auch Vermutungen über die Gesellschaftsstruktur des Kretas der Bronzezeit anstellen. Und weil es natürlich immer spannend ist herauszubekommen, wie eine lang vergangene Gesellschaft aufgebaut war, gibt es nun ein Blick auf Ton, Steine und Scherben:
Wie sehen Minoische Töpfe überhaupt aus?
Die Keramikmode der Minoer hat wunderschöne Charakteristika, die es Archäolog*innen erlauben, sie leicht wiederzuerkennen und auch in Untergruppen zu unterteilen, die alle von einer einzigartigen Schönheit sind. Es gibt viele Keramiken, die
einen Ausguss haben. Schnabelförmige Kannen beispielsweise. Und es wird im Verlauf der Minoischen Bronzezeit immer beliebter, Keramik zu bemalen. Gefärbter Tonschlicker wird dazu auf die Gefäße aufgetupft. Beliebt sind florale Muster, oder maritimes, wie zB. die Octopuskeramik, es gibt geometrische Musterungen, Spiralen
und Doppeläxte. Meistens hat man dabei den Grundfarbton der Keramik selbst und die Muster oder Abbildung sind in schwarzer Farbe aufgetragen, manchmal aber auch in Rot, Weiß und selten gibt es auch Blau. Gelegentlich gibt es mehrfarbige Keramik, dann ist eine zweite oder dritte Farbe aber nur da, um Akzente zu setzen.
Minoische Luxuskeramik
Im 2. Jahrtausend v. Chr. Leben die Menschen in dörflichen Siedlungen wie Gournia, oder in Palästen wie Knossos oder Malia. Die großen Paläste sind jeweils von Metropolen umgeben. Und wenn man genau hinsieht, dann findet man getöpferte Unterschiede der Gesellschaft. Denn: Es gab richtig hochwertige Palastkeramik.
Warum ich sie so nenne? Weil sie außerhalb der Paläste selten, bis gar nicht vorkommt. Diese Keramik war einigen Wenigen vorbehalten. Es handelt sich um Kamareskeramik. Typisch Kamares ist: Ein dunkler Untergrund der Farbenfroh bemalt ist. Durch den dunkeln Untergrund leuchten die Farben dieser Keramiken. Kamareskeramik findet sich nur an zwei Orten auf Kreta: Dem Palast von Knossos und
dem Palast von Phaistos. Das heißt, nicht mal in den kleinen Palast von Malia gelangte dieses kostbare Geschirr. Aber dafür findet man diese Keramik in Ägypten. Sie ist so hochwertig, sie kann exportiert werden. Die Minoer, die in altägyptischen Texten als „Keftiu“ bezeichnet werden, produzieren mit der Kamareskeramik Luxusgegenstände, die mit denen der Oberklasse im Reich der großen Pharaonen mithalten kann. Aber:
Kreta ist nicht das Nildelta, die Umstände sind andere und so ist es nur eine kleine Personengruppe auf der Insel, der diese Keramik zur Verfügung steht. Aber für uns Forscher*innen heißt das: 1. Man kann an den alten Scherben erkennen, dass es eine Oberklasse gab und 2. Das diese in den großen Metropolen dieser Kultur zu finden war.
Ein Blick in Minoische Töpferwerkstätten
Schaut man im Vergleich auf das Land, kann man aber auch hier anhand der Töpferei mehr über die Minoer und ihre Gesellschaft lernen. Ein Blick nach Gournia zeigt: Es gab in einer Landsiedlung eigene Töpferwerkstätten – im Schutt des Ortes hat man 8 Töpferräder gefunden. Zwei Töpfereibetriebe sind belegt. Und die hatten ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem. Dass es Bewässerungssysteme, auch in
kleinen Orten des bronzezeitlichen Kretas gab, ist dabei nicht außergewöhnlich. Tatsächlich findet man sie z.B. auch in Palaikastro. In Gournia hat die Archäologin Harriet Ann Boyd Hawes das Drainagesystem ausgegraben und konnte es schließlich der Keramikproduktion zuordnen. Deutlich zu sehen sind die Austrittslöcher der
Drainagen, durch die Wasser in die Werkstatt floss. In einer Töpfereiwerkstatt wurde Wasser gebraucht und das nicht für den Notfall, dass eine Töpferwerkstatt beim Keramik brennen plötzlich selber brennt. Wasser wird ständig benötigt, um dem Ton die richtige Konsistenz zu geben. Ein optimales Mischungsverhältnis und der richtige Feuchtigkeitsgrad sind für eine so hochwertige Produktion von immenser Bedeutung.
In der zweiten Baustruktur, die als Töpferei angesehen wird, hat sich ein fünfeckiges Wasserbassin mit einer Zu- und einer Ableitung befunden. Als Harriet Ann Boyed Hawes diese Töpferei entdeckte, nannte sie das Gebäude nach dem Bassin Pit-House. Denn zunächst konnte sie sich den Zweck des Hauses nicht erklären. Dass es sich um Töpfereien handelt, zeigt sich an den Funden, die in den Gebäuden gemacht wurden. In einer Töpferei wurden beispielsweise Tassen gefertigt.
Als das Gebäude kollabierte, blieben die fertigen und halbfertigen Tassen in dem Haus zurück und wurden erst über 3.000 Jahre nach der Katastrophe, die Gournia vernichtete, wieder gefunden. Auch die Werkzeuge der Töpfer*innen lagen noch in den Werkstätten. Dass es sich um Töpfereien gehandelt hat, ist also relativ sicher.
Töpfereien als Mittelstandbetriebe
Die Wasserversorgung direkt in den Töpfereien der dörflichen Siedlung Gournia spricht für einen optimal ausgebauten Fertigungsprozess. Dieser wurde im Erdgeschoss der Gebäude organisiert. Töpfereigebäude waren in der Regel mehrgeschossig, vermutlich lebten Handwerksfamilien direkt über ihrer Werkstatt. Die Funde zeigen: Die minoische Kultur hatte der Wahrscheinlichkeit nach eine ausgeprägte Mittelklasse, die aus hochprofessionellen Handwerker*innen bestand.
Diese Mittelklasse war auf Kreta deutlicher ausgeprägt als bei den gleichzeitigen mesopotamischen Kulturen, oder im nahe gelegenen ägyptischen Reich der Pharaonen. Und diese Mittelklasse brauchte natürlich auch möglichst hochwertiges Geschirr. Und dieses Mittelstandgeschirr wurde auch in Gournia angefertigt. Es fällt auf, dass die gesamte genutzte Keramik des Ortes auch in Gournia hergestellt wurde.
Keramik, die aus anderen Kulturen, oder auch nur aus nahe gelegenen minoischen Orten stammt, gibt es nicht in dieser Siedlung. Anhand der Keramikfunde lassen sich sogar einzelne und teils sehr klar abgegrenzte Zonen erkennen, in denen sich die Minoer bewegten. Gemeint sind geografische Grenzen, innerhalb derer Menschen sich
mit lokaler Keramik versorgen, die optisch sehr unterschiedlich sein kann. Die Keramik, die sich in Gournia findet, wird als Mirabello-Ware bezeichnet. Ob es sich hierbei um ein identitätsbasiertes oder politisches Instrument in der Bronzezeit handelt und sich so eine innere Struktur der Minoischen Kultur ablesen lässt, oder aber ob an dieser Stelle, die Archäolog*innen eine Beobachtung etwas zu eifrig interpretieren und das alles einfach nur praktische Gründe hatte, bleibt vorerst eine offene Frage.
Vom Export der Mittelstandskeramik
Was den Export angeht, lässt sich die Keramik aus Gournia besonders gut erforschen. Durch einen geologischen Glücksfall eignet sich die Erde in dieser Region besonders gut für die Töpferei und hat eine einzigartige geologische Zusammensetzung, die sich chemisch analysieren lässt. Diese Zusammensetzung beweist zweifelsfrei, wenn ein Gefäß aus Gournia stammt. Und so gibt es in Gournia zwar nur die lokale Keramik, dafür findet sich in vielen Teilen der minoischen Welt diese Mittelstandskeramik aus
Gournia. Ein vor der Küste gesunkenes Schiffswrack war voll beladen mit Mirabellokeramik. Als Unterwasserarchäolog*innen dieses Schiff entdeckten, hatten sie eines von vielen Indizien, dass von Gournia aus über den Hafen Keramik gehandelt wurde. Tatsächlich gibt es aber noch mehr Objekte, die darauf hindeuten, dass Gournia, oder zumindest die Produkte aus Gournia im weiteren Mittelmeerraum bekannt gewesen sind. Kontakte zwischen Gournia und der Region Kappadokien in der heutigen Türkei, sowie Kontakte nach Zypern können durch Hinweise dieser Art vermutet werden.
Ich hoffe, ich konnte zeigen, wie atemberaubend das Verständnis für eine Kultur sein kann, wenn man sich nur ein Detail, in diesem Falle nur die Scherben, etwas genauer ansieht. Klar, man kann Unterschiede in der Gesellschaft in Gournia auch an den Gräbern ablesen, aber Scherben geben noch einmal einen anderen Eindruck dieser vergangenen Lebensrealität. Und deswegen sind Archäolog*innen manchmal wegen so etwas scheinbar Unwichtigen, wie ein paar Scherben, ganz aus dem Häuschen.
Anmerkung: Alle Bilder habe ich im Nationalmuseum Iraklion gemacht. Ausserdem sind noch weitere Artikel zum Thema Kamareskeramik oder auch die Minoer Chronologisch in Arbeit, deswegen zeigt dieser Beitrag nur wenige Aspekte der Kultur.
Literatur:
Costis Davaras: Gournia. Kulturministerium, Kasse für Archäologische mittel und entgeignungen (Hrsg.), Athen 1989.
Quentin Letesson und Carl Knappett: Minoan Architecture and Urbanism – New Perspectives an an Ancient Built Environment, Oxford 2017.