Ich liebe Knochen und wenn ich auf die Klickzahlen schaue, liebt ihr sie auch. Texte über Skelettrestsanalysen findet ihr am spannendsten. Aber: Das ganze Thema hat auch Schattenseiten. Beispielsweise die Unfreiwilligkeit, mit der manche Menschen zum Exponat geworden sind. Ein Beispiel dafür finde ich besonders interessant:
Die Frauenknochen aus der Kieler Gebäranstalt
Bis heute gibt es ein paar Knochen aus der Forschungssammlung von Gustav Adolph Michaelis und Carl Conrad Theodor Litzmann. Zwei Gynäkologen aus der Kieler Gebäranstalt, die zwischen 1830 und 1880 die Geburt des Menschen erforschten. Medizinische Forschung, das hieß damals noch: Man versucht dem Inneren des Menschen ganz, ohne Röntgengerät auf den Grund zu gehen. Wenn man also die
Knochenstruktur sehen möchte, muss man den Menschen aufschneiden. Eine vergleichende Untersuchung über ein Gesundheitsbild bedeutete also, Knochen vieler verstorbener Patientinnen, erstmal zu sammeln, bis man ausreichend hat, um sie vergleichend erfassen zu können. Anders gesagt: Die Medizin stand im 19. Jahrhundert auf einem ganz anderen Stand als heute. Für die Erforschung der menschlichen Geburt brauchte man tote Frauen. Da stellt sich die Frage:
Was waren das für Frauen, die als Präparat in der Gebäranstalt blieben?
Eine Ausstellung, hat sich diesem Thema gewidmet und 14 der Frauengeschichten erzählt. Außerdem gibt es Literatur hierzu. Denn entlang der Biografien dieser Frauen lässt sich die damalige Zeit gut rekonstruieren. Vor allem das Leben in der Unterschicht Schleswig-Holsteins. Die Frauen, deren Knochen gesammelt wurden, waren in der Regel mittellos. Eine Frau, die unverheiratet schwanger wurde, verlor damals ihren Stand – sie galten als Straftäterinnen, egal wie sie schwanger geworden waren.
Es waren also Menschen, die von der Gesellschaft ihrem Schicksal überlassen worden waren. Doch in der Gebäranstalt bekamen sie Hilfe. Hier wurden Hebammen ausgebildet, die den Frauen bei der Geburt zur Seite standen. Und das sogar mit einer hohen Erfolgsquote, nur 5 % der Geburten in der Kieler Gebäranstalt waren mit Komplikationen verbunden. Doch gerade Frauen, die ihr ganzes Leben in Armut verbracht haben, hatten häufiger Probleme bei der Geburt.
Verbogene Becken
Es sind Geschichten von Frauen wie Wibke Butenschön, die dieses Zeitalter prägen. In Ihrer Kindheit litt sie an Rachitis. Kein ungewöhnliches Krankheitsbild, in dieser Zeit, den Rachitis kann durch Mangelernährung ausgelöst werden. Bei dieser Krankheit gibt es einen Kalziummangel, die Knochen bauen sich in der Kindheit nicht richtig auf und verformen sich sogar. Auch Wibke lief bis sie 14 Jahre als war auf Krücken.
Ihre Knochen sind verbogen – auch ihr Becken. Als sie als Erwachsene ein Kind bekommt, ist ihr Becken durch ihre Krankheitsgeschichte stark verformt. Das Kind kommt gesund zur Welt, doch Wibke selbst stirbt 3 Tage nach der Geburt. Ihr Körper hat die Geburt durch das verformte Becken nicht ausgehalten. Die Ärzte entnahmen ihrem Körper den Beckenknochen und der ist uns bis heute erhalten.
Ist das ethisch korrekt?
Eine wirklich gute Frage. Gefragt, ob Wibke das will, hat sicher niemand. Es war auch damals nicht üblich, dies zu fragen. Wibke war vmtl. froh, dass es überhaupt jemanden gab, der versucht hat ihr zu helfen. In Wibkes Fall war die Medizin leider noch nicht so weit, dass man ihr hätte helfen können. Aber: Die Ärzte haben ihre Knochen aufgehoben, damit sie vielleicht in der Zukunft einen Weg finden, Frauen mit dieser Problematik zu retten. Das war Grundlagenforschung, die heute tatsächlich Leben rettet.
Heute haben wir andere Wege, solche Forschungsdaten zu sammeln. Zum Beispiel Röntgenbilder. Das heißt, eigentlich brauchen wir diese historischen Exponate nicht mehr. Im Grunde genommen könnte Wibkes Becken und das von 30 weiteren Frauen nun beigesetzt werden. Aber auf der anderen Seite ist es diesen Knochen zu verdanken, dass wir uns bis heute an diese Frauen erinnern, deren Namen, aufgrund ihrer prekären Lebensumstände, ansonsten bis heute längst verhallt währen.
Was ist richtig und was ist falsch?
Ich muss ehrlich sagen: Ich weiß nicht, was richtig ist und wie man respektvoll mit solchen Knochen umgeht. Dieses Problem hat man in den historischen Wissenschaften immer wieder. Der Umgang mit Menschenknochen wird immer diskutiert und die ethischen Vorstellungen im Umgang mit ihnen sind unterschiedlich. Deswegen muss man jeden Fall einzeln betrachten. Dieses Beispiel zeigt es aber besonders.
Ich habe mich gefreut, Wibke wenigstens auf diese Art kennenzulernen und die frühen Gynäkologen, die nach besten Wissen einfach nur helfen wollten. Aber auf der anderen Seite hatte Wiebke nie das Recht selbst zu entscheiden, was mit ihren Knochen passiert. Wie denkt ihr darüber? Was ist in diesem Falle richtig? Und was ist falsch?
(Ausstellung: Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Brunswiker Straße 2, 24105 Kiel)
Literatur:
https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/259-kieler-gebaeranstalt#
https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/218-frauenschicksale
https://www.kieler-stadtentwicklung.de/Daten/Gebaeranstalt.html
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/zeitreise/Zeitreise-Die-Vermessung-der-Geburt,zeitreise2960.html
https://ada.com/de/conditions/rickets/