Es gibt ein Vorurteil gegenüber der Archäologie, dem ich vor einigen Wochen auf einer Podiumsdiskussion wieder begegnet bin. Mir wurde aus dem Publikum heraus die Frage gestellt, wie wir Archäologen uns denn zu aktuellen Themen äußern können, wo wir uns doch nur mit Zeitaltern auskennen würden, die lange vor der Erfindung der Schrift passiert sind. Ein Irrglaube, aber viele Menschen wissen es nicht besser, deswegen bin ich froh euch heute einen Buchtipp zu zeigen, bei der eine ganz andere Epoche beleuchtet wird. Denn: Archäologie erforscht zwar tatsächlich so lang
vergangene Zeiten, hat aber dafür Methoden entwickelt, mit der man verloren gegangene Geschichte aller Zeiten betrachten kann. Deswegen gibt es die Gegenwartsarchäologie, oder auch die Erforschung von Stätten des Naziterrors. Und zum Thema Lagerarchäologie ist jüngst ein Buch erschienen, dass ich den meisten von euch ans Herz legen kann:
Lagerland von Thomas Kersting
Das Werk befasst sich mit der Archäologie der Zwangslager in Brandenburg im 20. Jahrhundert. Da heißt es ist ein regionaler Fokus gesetzt – aber wenn man sich ein Bild dieser Zeit machen will, ist dies unerheblich. Da Objekte und Befunde aus ganz
Brandenburg gezeigt werden kann man sich sehr gut in das Thema einarbeiten, denn die Recherche ist sehr umfassend und weitreichend für dieses Werk gestaltet worden.
Eine neue Mentalität der Archäologie
Dieses Buch zeigt recht aktuelle Forschungen. Auch wenn es schon lange archäologische Forschungen zu den Lagern und dieser Zeit gibt, gibt es in der Archäologie auch eine Art „Deckel drauf“ Mentalität. Damit meine ich, dass die Relikte der NS-Zeit oftmals bewusst übersehen werden, bzw. wurden. Seit einigen Jahren gibt es aber diesbezüglich ein Umdenken. Das Motto „Wir buddeln eh tiefer, als das NS-Zeug liegt“ wurde wiederkehrend sehr real damit konfrontiert, dass man eben von oben
nach unten gräbt. Das heißt, dass man sich erst durch die Hinterlassenschaften der NS-Zeit durchbuddeln muss, um zu den Befunden zu kommen die einen eigentlich interessieren. Das es besser ist, sich mit Objekten dieser Zeit auszukennen, merkt man spätestens dann, wenn man das erste Mal den Kampfmittelräumdienst zu einer Ausgrabung rufen muss, weil man einen Blindgänger freigelegt hat. Aber viel wichtiger ist, dass sich langsam ein Verständnis dafür entwickelt, dass die Archäologie viel mehr kann als zufällig über Blindgänger stolpern:
Vom aufarbeiten der Shoah
Archäologische Untersuchungen machen Strukturen und Funktionen eines mörderischen Systems sichtbar. Auf struktureller Ebene und auf ganz individueller Ebene können wir dabei helfen die Lagerrealität darzustellen. Durch Zeitzeugen ist nämlich nicht alles überliefert oder bekannt. Wir können ergänzen und aushelfen mit Analysen und Betrachtungen. Hilfreich dabei sind Unterlagen, wie der detaillierte Luftbildkatalog von Lagergeländen am Ende des Buches Lagerland. Denn anhand solcher Luftbilder kann man bereits viel Vorarbeit für ein archäologisches Projekt
machen. Ich habe genau solche Kataloge in meiner Bachelorarbeit gefordert, weil sie das Erforschen von Lagern mittels Luftbildarchäologie und digitalen Karten ermöglichen. Man kann so Lagerstrukturen genauer veranschaulichen. Gut aufgezeigt wird in Lagerland auch, wie Stacheldraht als Hierachiemarker gilt. Denn Stacheldraht kann zeigen, wo und wie internierten Menschen in Gruppen mit mehr oder weniger Privilegien eingeteilt gewesen sind. Aber ich muss sagen, in Teilen schwächelt das Buch an genau dieser Stelle:
Das Stacheldraht-Paradoxon
Es gibt in der Lagerarchäologie einige Streitpunkte – wobei man vielleicht besser von gemeinschaftlicher Ratlosigkeit sprechen kann. Beispielsweise gab es auf der DGUF-Tagung „Wollen und brauchen wir mehr Archäologie der Moderne?“ im Jahr 2020 breite Diskussionen. Zwar war die Fragestellung der Tagung denkbar überflüssig, da auf so einer Tagung natürlich niemand erscheint, der an der Sinnhaftigkeit der Aufklärung von Naziverbrechen, oder auch an der Sinnhaftigkeit von Erinnerungskultur zweifelt. Durchaus wurden hier aber Fragen diskutiert, bei denen man sich als Archäologin wirklich nicht sicher ist, was man jetzt tun soll. Und dazu gehört der Umgang mit Stacheldraht. Dieser kann, wie schon erwähnt ein wichtiger Anzeiger sein für Grenzverläufe oder auch Hierarchisierungen. Er wird also feinsäuberlich dokumentiert. Ein relevanter archäologischer Fund wird normalerweise in einem Depot des Denkmalamtes inventarisiert, also eingelagert. Aber es wurden tausende an Kilometern Stacheldraht in NS-Lagern verbaut – und das heißt bei Ausgrabungen findet man tonnenweise Stacheldraht. Ist es wirklich sinnvoll so viel rostigen Stacheldraht in
einem Lagerhaus einzulagern? Bei Funden aus anderen Zeiten versucht man dadurch so viel wie möglich auch später noch erforschen zu können, wenn es in der Zukunft neue Forschungsmethoden gibt. Aber von anderen Kulturen gibt es nicht so viele Objekte, wie es im Vergleich Nazi-Stacheldraht gibt. Auf der anderen Seite gibt es Gedenkorte. Und die sollen teils möglichst authentisch das Lagerleben zeigen. Also mit möglichst authentischem Stacheldraht. Nur: Die archäologische Analyse zeigt, ein Stacheldraht, wie er damals genutzt wurde, den gibt es heute so nicht mehr. Wenn man einen authentischen Stacheldraht haben will, müsste man mit historischen Werkzeugen diesen Stacheldraht neu Produzieren. Aber will man dieses Symbol von Macht und Terror wirklich reproduzieren? Leider finden sich solche Problemstellungen nicht im Buch Lagerland wieder. Deswegen ist es meines Erachtens nicht ganz umfassend.
Das Wissen der Objekte
Auch wenn das Buch also ein Paar Schwachpunkte hat – beispielsweise erschließt sich die Anordnung der Kapitel nicht immer, leistete es dennoch einen Beitrag um sich einzulesen in die Funde dieser Zeit. Dies ist zum einen für Lehrer*innen interessant, die anhand von Objekten die Lagerrealität erklären wollen, aber auch für die Erinnerungskultur an sich, weil die Bedeutung der Objekte, welche bei Ausgrabungen gefunden wurden, unterstrichen wird. Zum Beispiel gibt es einen Exkurs zu Schüsseln und Topfgefäßen. Gegenstände aus denen eine Einzelperson nicht nur gegessen hat, sondern möglicherweise nur ob des Besitzes dieses Napfes eine Überlebenschance
hatte, sind Bestandteil von dem einzigartigen Wissen der Objekte. Was ich mit dieser poetischen Formulierung meine ist: man kann Menschen anderer Zeiten in seiner Vorstellungskraft besser begegnen, wenn man authentische Objekte zur Verfügung hat, die aus der direkten Lebenswelt dieser Menschen stammen. Eine gewisse Verbundenheit entsteht – z.B. die Frage, was dieser Napf wohl gesehen und erlebt hat, ob der Eigentümer das Lager wohl überlebt hat. Die Objekte, die in Lagern gefunden werden, sind vielfältig. Diese Vielfalt wird in dem Buch gut abgebildet. Ein guter Grund, warum es sich auch um ein Werk handelt, welches sich Einsteiger in die Erforschung von Lagern des WWII ins Regal stellen sollen. Man hat hier viele Objekte abgebildet, die einen ersten Eindruck von möglichen Funden geben und das ist Basiswissen.
Einleitung in das Lager als Befund
Besonders gut ist, dass es eine Aufstellung für spezifische Befundsituationen gibt. So können Archäolog*innen welche das erste Mal mit einem NS-Lagerbefund konfrontiert, sind evtl. an dem Fundgut schnell ablesen, was sie vorliegen haben. Das Problem ist nämlich: Es gab sehr viele Außenlager und oft ist heute gar nicht so genau bekannt, wo diese waren. Das heißt sie werden durch Zufall gefunden. Eine signifikante Befund-situation, dass ist das, was Archäologen sehen, womit die schnellen ersten
Rückschlüsse geschlossen werden können in der ganz praktischen Arbeit. Und diese Rückschlüsse sind wichtig für einen angemessenen Umgang mit einem Befund. Leider ist die NS-Archäologie in der Ausbildung an den Unis noch nicht ausreichend vertreten, sodass ein Lager im Zweifel gar nicht unbedingt erkannt werden kann. Aber: spezifische Befundsituationen sind in diesem Buch beschrieben, sodass man sich gut weiterbilden kann. Gezeigt wird auch, dass Archäologie mehr kann als nur ausgraben
und ausstellen – z. B. Materialanalysen. Die zeigen z. B. wie eine Person eine Plakette mit dem eigenen Namen fertigen konnte, woher das Material kam und woher die Möglichkeit das Material zu bearbeiten. Das sind Details aus dem Lagerleben, die wir anders nicht herausfinden würden. Und dadurch kommen wir zu:
Objektgeschichten die unter die Haut gehen
Objekte, die einem nahe gehen sind zum Beispiel Plaketten, in denen sich Namen finden, selbst gebastelt von Internierten. Teils mit Spuren vom Heimweh der Menschen. Wenn zum Beispiel der alte Wohnort, das zu Hause, der Sehnsuchtsort verewigt wurde. Vieles wurde heimlich selbst gebastelt. Gegenstände, die mal verborgen wurden, mal verloren gingen und heute von Archäologen wieder gefunden werden. In einem Falle z. B. ein Plektrum, gefertigt aus einer Schatulle für Lübecker Marzipan. Eine
Geschichte, die zeigte: Musik war offenbar wichtiger, als diese Schatulle, die aber so bearbeitet wurde, dass das Wort Marzipan noch gut sichtbar war – Die Erinnerung an Marzipan, war für die Person, die sich das Plektrum baute, also möglicherweise relevant. Eine andere Fundgruppe kann einen bei näherer Betrachtung ebenso berühren: Kämme – z. T. selbst gebastelt. Nicht nur weil sie eine wirksame Waffe
gegen Läuse sind und Läuse konnten in einem Lager tödlich sein, aufgrund der Infektionen, die sie verursachen können. Es geht bei Kämmen um eine Begegnung mit der Individualität der Menschen – Ein Kamm kann auch schmückend sein, wenn man ihn stilvoll ins Haar steckt. Diese Geschichte kann man z. B. In der Mauthausen-Kantate von Mikis Theodorakis nachlesen, in der er beschreibt, wie er unter den Mädchen von Auschwitz und Dachau seine liebste mit dem schönen Kamm im Haar sucht. Kämme erzählen also auch Geschichten von Würde und dem Kampf um die eigene Identität.
Lagerland – Ein Buch, dass zeigt, dass die Lagerarchäologie endlich wahrgenommen wird
In den 50er Jahren wurde am KZ Mauthausen ein Massengrab umgelegt, einfach nur weil es an einer viel von deutschen Touristen befahrenen Strasse lag. Man wolllte die Deutschen nicht mit ihrer eigenen Geschichte belästigen. Das Buch Lagerland zeigt: solche Rücksichtslosigkeiten sind heute nicht mehr ohne weiteres möglich. An ehemaligen Orten des Terrors wird es Gott sei Dank immer schwieriger einfach ein Bauprojekt umzusetzen. Die Archäologie wird häufiger zurate gezogen. Es zeigt sich vermehrt, dass wir mit unseren Methoden den Terror teils aufklären und, mit unseren Funden, die Erinnerungskultur unterstützen können. Teils schafft die Archäologie die
Erinnerungsorte gleich selbst. Wie zeigt dieses Buch. Vor allem aber, zeigt es wie sehr es die Archäologie braucht, denn mit Schriftquellen können die Historiker*innen zwar viel nachvollziehen, aber es sind immer wieder archäologische Funde, die das Bild abrunden. Die den Teil der Lagerrealität erzählen, der in keinem Geschichtsbuch steht, weil die Personen, die es erzählen könnten, nicht mehr leben. So ist eine Zusammenarbeit mit Historiker*innen natürlich richtig und wichtig, aber die Archäologie leistet meines Erachtens mittlerweile den relevanteren Beitrag für die Erinnerungskultur. Und so sind es seitenweise Namen, die in dem Werk stehen, die man von Plaketten von Zwangsarbeiter*innen ablesen konnte, die auf archäologischen Ausgrabungen gefunden wurden. Biografien von listenweise Menschen die hier nachvollzogen werden können, zum Teil nur wegen einem, einzelnen archäologischen Fund. Und das ist vielleicht die eigentliche Bedeutung des Buches Lagerland: Es zeigt die Relevanz unserer Forschung.