Es ist 3.342 Jahre vor heute. Die Bronzezeit. Eine ganze Familie ist am höchsten Punkt des Orts versammelt. Sie bringen Opfergaben dar, an einem Schrein. In der Hoffnung, dass ihre Bitten auf guten Fang beim Fischen und auf eine gute Ernte erhört werden. Eine Tante ist altersschwach, sie sitzt auf einer Bank, während ihre Nichten und Neffen die Zeremonie durchführen. Die Familie lebt in einem Ort, den wir heute Gournia nennen. Ihre Kultur wird heute als Minoer bezeichnet.
Sie ahnen nicht, dass eines Tages ein Tsunami kommen wird, der ihren gesamten Ort hinwegfegen wird.

Heute hat man vom Schrein von Gournia aus eine wunderbare Übersicht über die gesamte ihm zu Füssen liegende Siedlung (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Doch mehr als 3.000 Jahre später wird die Archäologin Harriet Boyd ihren Heimatort wieder entdecken. Und damit auch den Schrein, an dem sich eine solche Szene möglicherweise abgespielt hat. Heute geht es also um:
Den Schein von Gournia
In der minoischen Siedlung Gournia, im Osten von Kreta, offenbart sich das alltägliche Leben der Minoer. Dem hier lebten durchschnittliche Menschen der ägäischen Bronzezeit, es ist ein Leben der normalen Leute, so wie ich und du ihn einem gemütlichen Örtchen. Dazu gehört auch, dass es ein religiöses Zentrum an dem höchsten Ort an der Mittelmeerküste gibt, direkt-neben einer Art Palästchen, das vielleicht auch ein Rathaus war, auf jeden Fall das administrative Zentrum. Der Schrein wurde also an einer Stelle des Hafenstädtchens errichtet, das sich um einen kleinen Hügel kuschelt. Welcher für das Zusammenleben besonders relevant war.

Terrassierung für den Schrein von Gournia von weitem (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Das religiöse Gebäude ist dabei deutlich an der Bauweise zu erkennen, denn es sticht aus der Architektur des Ortes hervor. Und das nicht nur, weil es so prominent am höchsten Platz steht. Wenn man von unten, also vom Mittelmeer kommend, auf diese Stelle zuläuft, fällt auf, dass der Standort architektonisch künstlich erhöht wurde. Eine Terrasse wurde extra dafür aufgeschüttet und mit Steinen abgestützt. Dass es so eine Baustruktur gibt, ist in dieser Siedlung ungewöhnlich. Es führt dazu, dass der Schrein in einer Art Miniaturformat einer Akropolis, über dem Ort steht. Und das muss einmal ein wirklich toller Anblick gewesen sein. Gerade für diejenigen, die Gournia von See kommend aus erreicht haben. In diesem Ort stand also das religiöse Zentrum über allem, und da sollte auch von weither zu sehen sein. Deshalb bildete dieses Haus auch den signifikantesten Punkt der Skyline des bronzezeitlichen Gournia.
Wie sah es aus als der Heilige Ort genutzt wurde?
Zu dem religiösen Bau gelangt man, bis heute, über eine Treppe, die östlich an der Terrassierung, entlang führt. Es hat sich in dem Schrein eine Bank erhalten, die auf das 14. Jahrhundert v. Chr. datiert werden konnte. Die Bank ist an das Straßennetz angebunden, das wiederum sehr viel älteren Datums ist. Denn das Straßennetz selbst stammt bereits aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. Und das heißt, dass man nach einer jahrhundertelangen Nutzung des Schreins, auf die Idee kam, dass es praktisch, oder sinnvoll ist, dort eine Bank zu errichten. Vielleicht hatte sich die Kultur etwas verändert, und Leute standen Schlange auf dem Weg in ihr Heiligstes, oder es gab tatsächlich mehr alte Menschen. Vielleicht aber kam einfach irgendwann irgendwer auf die Idee, dass eine Bank an dieser Stelle echt neu gute Sache sei. Wir werden es leider nie erfahren.

Die Treppe zum Schrein führt direkt an der Terrasse entlang (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Klar ist: Der Ort wurde, wie wir es heute auch machen, immer wieder renoviert, neu- und umgebaut und dabei werden bereits vorhandene Bereiche, wie z.B. Straßen lange beibehalten. In diesem Falle bekam das religiöse Zentrum Gournias eben eine Sitzbank. Sie stammt aus der letzten Periode, bevor der Ort zerstört wurde. Es ist ein typischer Kultort dieser Zeit – ein frei stehendes Heiligtum, an einer zentralen Position des Ortes. Und das in Verbindung mit einer Bank, also der Möglichkeit der Angehörigen der Umgebung am religiösen Unternehmen Teil zuhaben. Und auch wenn ich mir die Familie mit der altersschwachen Tante ausgedacht habe – es wäre möglich gewesen.
Welche Spuren von religiösen Ritualen hat man hier gefunden?
Zu den Funden aus diesem Heiligtum gehören religiöse, kleinfigürliche Darstellungen, die in der Hauptsache aus dieser letzten Phase des Ortes stammen. Damit gemeint sind Figuren in Form von Vögeln, Doppeläxten, Schlangen, Muscheln und weitere Symbole. Diese Figuren wurden hier geopfert. Zu der minoischen Kultur gehören, ganz typisch, auch Frauenfiguren. Natürlich wurden diese Figuren auch am Schrein von Gournia gefunden. Diese Frauendarstellungen werden auch oft als Göttinnen angesprochen.

Frauenfiguren aus der gleichen Zeit vom Fundplatz Hagia Triada. Am Schrein in Gournia wurden Figuren gefunden, die sehr ähnlich sind. Diese Figuren sind ausgestellt im Nationalmuseum in Iraklion (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Bekannt sind sie vor allem von Fundplätzen wie dem Palast von Knossos, aber auch weit außerhalb gab es sie. Setzt man dies in Bezug damit, dass sich in Griechenland 700 Jahre nach dem Verschwinden der Minoer die uns bekannte griechische Mythologie herausgebildet hat, kann man hier vielleicht eine frühe, lang vergessene, Vorgängerform dieser Religion sehen. Die geopferten Symbole, Schlangen, Muscheln und Doppeläxte sind in der späteren griechischen Geschichte am ehesten mit Athene und die Tierdarstellungen mit Artemis zu verbinden. Muscheln stehen in Zusammenhang mit Aphrodite. Vielleicht sehen wir also in so einem Schrein eine Ursprungsversion einer oder mehrerer Göttinnen, aus denen sich dann die uns bekannten Göttinnen heraus gebildet haben. So verrückt, wie ich die Menschheitsgeschichte kenne, würde mich das gar nicht wundern.
Abschießend, muss ich sagen. Das Gournia ein tolles Ausflugsziel ist. Durch seine Lageposition wirkt das Heiligtum bis heute erhaben. Man merkt vor Ort, dass es eine besondere Position ist, auch in den teils zur knöchelhoch erhaltenen Ruinen. Und man merkt es auch ganz ohne Guide, selbst wenn man sich auf diesem Fundplatz nicht auskennt. Es ist also einen Besuch wert. Wenn man in diesem Schrein steht, dann ist das definitiv ein besonderer Moment. Und den kann man auch gut genießen.

Der Blick die Siedlung hinab bis zum Mittelmeer (Bild: Geesche Wilts (CC BY-NC 3.0 DE)).
Denn Gournia liegt abseits vom üblichen Touristenrummel auf Kreta. Und wenn man sich Zeit nimmt, einen Reise- oder Denkmalführer einpackt, und das genießen will, dann kann man sich auf eben diese Bank setzen, wo schon vor 3.342 Jahren meine erfundene Tante saß, und ich vorstellen, wie wichtig dieser Kultplatz einmal für das Zusammenleben in dieser Kultur gewesen ist. Und wie bemerkenswert es ist, dass dieser Ort so lange so stabil war, und nicht durch Konflikte, sondern durch eine Naturkatastrophe ihr Ende fand.
Literatur:
Mike Prent, Creatan Sancuaries and Cults – Contiuity and Change from late Minaon IIIC to the Archic Period. In: Religions in the Graeco-Roman World 154, Boston 2005.