Margarete Bieber

Doris Gutsmiedl-Schümann, Elsbeth Bösl, Gabriela Thummerer – Die heutigen Gastautorinnen sind die Archäologinnen Doris Gutsmiedl-Schümann und Gabriela Thummerer und die Historikerin Elsbeth Bösl. Sie arbeiten gemeinsam im Projekt „Akteurinnen archäologischer Forschung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: Im Feld, im Labor, am Schreibtisch (AktArcha)“ und beschäftigen sich seit gut anderthalb Jahren intensiv mit archäologisch arbeitenden Frauen seit dem späten 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum.

Wir freuen uns sehr, dass wir zum heutigen Weltfrauentag gebeten wurden, die „Miss Jones des Jahres 2023“ zu küren!  Passende Frauen gibt es genug. Sie alle lebten ein bewegtes Leben und ließen sich auch durch Hindernissen und Widrigkeiten nicht von ihrem Weg abbringen.

Unsere Wahl fiel auf die Archäologin, die als Erste das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts erhielt und als erste Frau in der Archäologie habilitierte, die ihre vielversprechende Karriere aber 1933 aufgeben musste, um aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu fliehen: Unsere „Miss Jones des Jahres 2023“ ist Margarete Bieber (1879-1978).

Eine Comiczeicnung von einer Frau. Sie hat ein schwarzes Hemd mit einem weißen Kragen an, und sie hat einen Dud.

Margarethe Bieber Margarete Bieber (1879-1978). Portraitzeichnung von Jens Notroff.

Margarete Bieber wurde am 31. Juli 1879 in Schönau, Westpreußen (heute Przechowo, Polen) geboren und wuchs dort mit drei Geschwistern auf. Die Familie war wohlhabend: Margaretes Vater besaß bedeutende Mühlen und große Ländereien. Auf Mädchenbildung legte die Familie allerdings keinen großen Wert. Nur ein Bruder durfte eine höhere Schule besuchen. Für Margarete, ihre ältere Schwester Gertrud und ihre jüngere Schwester Anna galt die Schulzeit nach nur wenigen Jahren als abgeschlossen. Mit 16 Jahren begann Margarete, sich um ihre Mutter und ihre ältere Schwester, die beide oft krank waren, zu kümmern. Der typische Lebensweg einer höheren Tochter als „Managerin“ des Haushalts schien damit seinen Ausgang zu nehmen. Margarete allerdings hatte andere Pläne:

„Mit 19 Jahren überraschte und entsetzte ich meine Familie mit dem Wunsch, zu studieren. Unter großen Schwierigkeiten, gehemmt durch die Verzweiflung meiner Mutter, die Abneigung meines Vaters gegen Mädchenbildung, die Vorwürfe und Unglücksprophezeiungen meiner zahllosen Tanten, aber ermutigt durch eine zufällige Bekanntschaft mit der Sozialistin Anita Augsburg, setzte ich es durch, in Berlin die Gymnasialkurse für Mädchen von Helene Lange besuchen zu dürfen.“ (Margarete Bieber in Neue Freie Presse 1923)

1899 ging Margarete Bieber nach Berlin, um sich in Privatkursen auf das Abitur vorzubereiten. Es gab noch keine Möglichkeit, auf einem Mädchengymnasium regulär die Hochschulreife zu erreichen. Zwei Jahre später bestand sie als Externe die Abiturprüfung am Gymnasium von Thorn (heute Toruń, Polen), und damit als erste Frau in Westpreußen. Noch im gleichen Jahr begann sie an der Universität Berlin zu studieren.

Frauen wurden zu dieser Zeit an preußischen Universitäten noch nicht als reguläre Studentinnen zugelassen; sie mussten mit dem Status als Gasthörerinnen vorliebnehmen. Das bedeutete, dass sie für jede Veranstaltung, die sie besuchen wollten, den Professor um Erlaubnis bitten mussten – und es war keineswegs selbstverständlich, diese dann auch zu bekommen. Margarete Bieber wollte in Berlin zunächst Germanistik studieren, wurde dort aber abgelehnt. So wandte sie sich den in dieser Zeit in Berlin liberaler eingestellten Altertumswissenschaften zu. Das Studium beinhaltete alte Sprachen, Kunstgeschichte und Archäologie. Margarete Bieber machte Archäologie und Kunstgeschichte zu ihren Schwerpunkten.

1904 wechselte Margarete Bieber an die Universität Bonn zu Professor Georg Loeschcke (1852-1915). Bei ihm schrieb sie ihre Doktorarbeit über „Das Dresdner Schauspielerrelief“, einem Kunstwerk aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Die Doktorarbeit war damals der erste und einzige mögliche Studienabschluss in Archäologie. 1906 bestand sie die mündliche Doktorprüfung, 1907 wurde sie promoviert und durfte sich fortan Dr. Bieber nennen. Sie war die zweite Frau in Deutschland, die im Fach Archäologie promovierte – nach ihrer Studienkollegin Elvira Fölzer, die ihren Doktortitel 1906 ebenfalls bei Georg Loeschcke an der Universität Bonn erwarb.

„Die Weihnachtsfreude, die ich mit der Magna cum laude bestandenen Prüfung im Jahre 1906 meinen Eltern machte, hat sie mit meinen Bestrebungen endgültig ausgesöhnt, so daß sie diese von jetzt an in der großherzigsten Weise unterstützten. Sie gestatteten mir, 1907 in den Süden zu gehen, in dem ich mit Ausnahme von jährlich einigen Monaten sieben Jahre geblieben bin. Die ersten beiden Jahre verbrachte ich in Rom.“ (Margarete Bieber in Neue Freie Presse 1923)

Die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern ermöglichte es Margarete Bieber nicht nur, zu reisen und im Mittelmeerraum bedeutende Fundstätten und Objekte der Antike im Original zu sehen. Es bedeutete für sie vor allem, dass sie bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht darauf achten musste, damit auch genug Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

1909 erhielt Margarete Bieber als erste Archäologin das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts: Im zweiten Anlauf war ihre Bewerbung erfolgreich gewesen. Im Jahr zuvor hatte die Theologin Carola Barth als erste Frau überhaupt eines der begehrten Reisestipendien bekommen.

Das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts wird auch heute noch in mehreren Kategorien vergeben. Damals wie heute ermöglicht es frisch promovierten Wissenschaftler*innen Studienreisen, um archäologische Stätten und Funde vor Ort und im Original zu sehen. Zudem lernen die jungen Archäolog*innen auf diese Weise viele etablierte Fachkolleg*innen und andere Forschende kennen, und können sich so zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn ein umfangreiches Netzwerk aufbauen.

Margarete Bieber nutze das Reisestipendium, um Griechenland und Kleinasien zu besuchen. Dabei war sie oft zusammen mit den anderen Stipendiaten des Jahrgangs 1909/1910 unterwegs, die alle deutlich jünger waren als sie. Anfangs standen sie der inzwischen 30-jähringen Margarete Bieber skeptisch gegenüber, doch im Laufe der Zeit bildeten sich Freundschaften. Besonders Gerhart Rodenwaldt (1886-1945) blieb Margarete Bieber ein Leben lang verbunden.

Margarete Bieber trägt ein Kleid der Mode 1910. Sie hat einen Hut auf, der reich mit Blumen verziert ist.

Margarete Bieber am 30.6.1910 während ihres Reisestipendiums.
Bildnachweis: Deutsches Archäologisches Institut, D-DAI-ATH-1973-1146,
Fotograf Eduard Schmidt.

Die etablierten Archäologen reagierten sehr unterschiedlich auf Fräulein Dr. Bieber. Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), damals Direktor der Abteilung Athen des Deutschen Archäologischen Instituts, empfing sie freundlich in Pergamon und besuchte mit ihr auch andere antike Stätten in Kleinasien. Erich Pernice (1864-1945) hingegen, der unter Theodor Wiegand (1864-1935) auf dessen Ausgrabung in Milet arbeitete, bezeichnete ihren Besuch dort in einem Brief später als „schauerlich“.

Margarete Bieber blieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Mittelmeerraum tätig – unter anderen erstellte sie einen Katalog der Fotothek der Abteilung Athen des Deutschen Archäologischen Instituts. Dieser wird auch heute noch benutzt. Ihre vielen Jahre in Rom und Athen haben in den dortigen Archiven des Deutschen Archäologischen Instituts Spuren hinterlassen. So findet sich in der Abteilung Rom etwa ein Album „Carneval in Rom“, in dem sich ein von Margarete Bieber verfasstes Theaterstück und einige Fotos von der Aufführung finden. In diesem Stück erwachen antike Kunstwerke zum Leben und sprechen über ihre Interpretation. Margarete Bieber hatte Humor.

Ein Gedicht mit der Schreibmaschiene Geschrieben.

Prolog aus dem von Margarete Bieber zu Ehren von Walter Amelung (1865-1927) 1914 verfassten Theaterstück “Carneval in Rom” Bildnachweis: Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Rom, Archiv, A-III Amelung G.

1914 jedoch musste Margarete Bieber nach Deutschland zurückkehren. Sie ging nach Berlin, wohin Georg Loeschcke, der Betreuer ihrer Doktorarbeit, inzwischen berufen worden war. Dort arbeitete sie an Loeschckes Lehrstuhl und ersetzte die zum Militärdienst eingezogenen Assistenten, wurde aber nicht für ihre Arbeit bezahlt. Als Georg Loeschkce 1915 erkrankte und kurz darauf starb, vertrat Margarete Bieber inoffiziell seine Professur und setzte auch die akademische Lehre fort. Zu ihren Schülerinnen gehörten Elisabeth Jastrow (1890-1981) und Jane van Heuckelum (gest. 1945), die spätere Ehefrau Gerhart Rodenwaldts.

Frauen war es im Deutschen Kaiserreich nicht gestattet, zu habilitieren: Dies war aber Voraussetzung, um an Universitäten zu lehren und um Professuren zu erlangen. Promovierten und forschenden Frauen wie Margarete Bieber war eine akademische Laufbahn daher größtenteils verschlossen. Nur wenn Professoren wie Georg Loeschcke es zuließen, konnten Frauen als Wissenschaftlerinnen an Universitäten arbeiten. Ferdinand Noack, der Nachfolger Georg Loeschckes, stand Margarete Bieber ablehnend gegenüber: Er verbot ihr die Lehrtätigkeit und untersagte ihr, das Berliner Institut weiter zu nutzen. Die Studierenden wollten sich damit aber nicht abfinden und baten Margarete Bieber, sie weiter zu unterrichten – was sie im privaten Kreis dann auch tat.

Das Ende des deutschen Kaiserreichs und die Gründung der Weimarer Republik brachten für Margarete Bieber sowohl beruflich als auch privat Veränderungen und neue Chancen.

„Da brachte die Revolution Wandel. Mein Freund Rodenwaldt, der Neujahr 1919 seine während des Krieges erhaltene Professur in Gießen angetreten hatte, schrieb mir schon nach wenigen Wochen, daß meiner Habilitierung in Gießen voraussichtlich nichts im Wege stünde. Noch am gleichen Tage, an dem ich diesen Brief erhielt, sandte ich mein Gesuch um Zulassung.“ (Margarete Bieber in Neue Freie Presse 1923)

1919 wurde Margarete Bieber an der Universität Gießen habilitiert – nach der Mathematikerin Emmy Noether als zweite Frau in Deutschland und noch bevor das Habilitationsrecht für Frauen in der Weimarer Republik offiziell eingeführt wurde. 1923 wurde Margarete Bieber in Gießen zur außerordentlichen Professorin ernannt; 1928 übernahm sie die Leitung des Gießener Instituts für Altertumswissenschaften.

„Ich bin der zweite weibliche Universitätsprofessor in Deutschland; der erste ist die bedeutende Mathematikerin Emmy Noether in Göttingen.“ (Margarete Bieber in Neue Freie Presse 1923)

Als Margarete Bieber 1932 erfuhr, dass sie im kommenden Jahr das planmäßige Ordinariat in Gießen erhalten sollte und damit auch finanziell abgesichert sein würde, entschloss sie sich, im Alter von 54 Jahren, ein sechsjähriges Mädchen zu adoptieren.

Ihre bis 1933 stetig fortschreitende Karriere kam aber in Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu einem abrupten Halt. Margarete Bieber war zwar selbst altkatholisch getauft und hatte durch ihre Gouvernante in jungen Jahren eine christlich-protestantische Erziehung erfahren, ihre Familie war aber jüdischer Abstammung. In Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde sie entlassen. Auch ein offener Brief, in dem sich 49 ihrer Studenten mit ihr solidarisierten, konnte daran nichts ändern.

Obwohl Margarete Bieber die Meinung vertrat, dass der Nationalsozialismus eine vorübergehende Erscheinung sei, entschloss sie sich noch 1933, Deutschland zu verlassen. Ihre Adoptivtochter Ingeborg und ihre langjährige Haushälterin Katharina Freytag nahm sie mit. Sie ging zunächst nach Oxford und von dort 1934 nach New York. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in der neuen Welt traf sie dort auf Hans Dragendorff, zu dieser Zeit Professor für klassische Archäologie in Freiburg. Er schrieb über diese Begegnung:

“Frl. Bieber, wie ich nicht anders erwartet, nicht nur gegen mich ganz die Alte, sondern auch absolut taktvoll in allem, was sie sagt. Nachher, als wir auf der Straße allein auf ihren Autobus warteten, merkte man wohl die Bitterkeit. Als man sie entließ, war sie erst zwei Jahre in einer etatsmäßigen Stelle, hatte also keinen Anspruch auf Pension und stand absolut vor nichts.” (Hans Dragendorff, Briefe einer Amerikareise 1934, Brief von 14.10.1934, Archiv der RGK, Drag-8)

In den USA setzte Margarete Bieber ihre wissenschaftliche Laufbahn fort. Sie bemühte sich zudem, anderen, die auf Grund der politischen Entwicklungen ebenfalls aus Deutschland fliehen mussten, zu helfen – etwa ihrer Schülerin und Freundin Elisabeth Jastrow.

Margarete Bieber lehrte zunächst am Barnard College, seit 1935 auch an der Columbia University, wo sie bis zu ihrem Ruhestand als Associate Professor in Fine Arts and Archaeology tätig war. Sie blieb bis ins hohe Alter wissenschaftlich aktiv. Ihr letztes Forschungsstipendium erhielt sie mit 98 Jahren. Sie starb vor 45 Jahren am 25. Februar 1978 in New Canaan, Connecticut, USA, wo sie bei ihrer Adoptivtochter lebte.

Weitere spannende Frauengeschichten aus den Archäologien stellen wir auf unserem Blog und in unserer Ausstellung „Ein gut Theil Eigenheit“ – Lebenswege früher Archäologinnen vor. Die Ausstellung ist ab 8.3.2023 in Bonn zu sehen.

Literatur & Links:

Margarete Bieber, Wie ich Universitätsprofessor wurde. Neue Freie Presse, 20.8.1923, 6–7. Online verfügbar unter https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19230820&seite=6&zoom=33&fbclid=IwAR3NDxNfkp7JitDS4DYME6Q8b7eWVtIt9uceGZiZGpbF81UY6I9VePaC-Wo

Margarete Bieber, Carneval in Rom 1914. Zu Ehren von Amelung. Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Rom, Archiv, A-III Amelung G.

Carmen Arnold-Biucchi/Martin Beckmann (Hrsg.), Sculpture and Coins. Margarete Bieber as Scholar and Collector. Loeb classical monographs 16 (Cambridge, Massachusetts, London, England 2018).

Larissa Bonfante/Matthias Recke, Margarete Bieber: Two Worlds. In: Breaking Ground: Women in Old World Archaeology. Online verfügbar unter https://www.brown.edu/Research/Breaking_Ground/bios/Bieber_Margarete.pdf

Marion Meyer, Margarete Bieber (1879-1978). Archäologin in Bonn, Gießen und New York. In: Ursula Mättig/Martina Pottek/Barbara Schellewald/Sabine Sielke (Hrsg.), Vorbilder. Wissenschaftlerinnen der Universität Bonn. Historische, soziologische und künstlerische Perspektiven (Bonn 2003) 15–20.

Hans P. Obermayer, Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil (2014).

Matthias Recke, „… besonders schauerlich war die Anwesenheit von Frl. Bieber“. Die Archäologin Margarete Bieber (1879-1978) – Etablierung einer Frau als Wissenschaftlerin. In: Jana E. Fries/Ulrike Rambuscheck/Gisela Schulte-Dornberg (Hrsg.), Science oder Fiction? Geschlechterrollen in archäologischen Lebensbildern. Frauen – Forschung – Archäologie 7 (Münster 2007) 209–231.

Matthias Recke, Margarete Bieber (1879-1978). Vom Kaiserreich bis in die Neue Welt: Ein Jahrhundert gelebte Archäologie gegen alle Wiederstände. In: Jana E. Fries/Doris Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.), Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. Frauen Forschung Archäologie 10 (Münster 2013) 141–150.

Margarete Bieber auf Propylaeum Vitae: https://sempub.ub.uni-heidelberg.de/propylaeum_vitae/wisski/navigate/22623/view

Oskar Alexander Rudolph Haro, Masterstudent am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin, hat über “Die Archäologin Margarete Bieber” ein interaktives Video erstellt. Das Video sollte am Besten über einen Computer oder Laptop aufgerufen werden: https://player.hihaho.com/097411d7-5f05-4744-945d-366c4d6fc3f0