Synagoge ausgegraben – Jüdische Gemeinde Gießen bekommt ihre Geschichte zurück

Gießen, 10.11.1938. Wie überall in Deutschland brennen jüdische Geschäfte und auch die “Neue Synagoge” in Gießen. Sie verschwindet vollständig aus dem öffentlichen Bild. Die Trümmer der Synagoge werden schließlich gesprengt und beseitigt. Später steht an gleicher Stelle eine Wohnbaracke für ausgebombte. Nach dem Krieg erinnert nur noch ein Gedenkstein daran, dass hier einmal die Synagoge stand.

Gedenkstein mit einem Chanukkaleuchter. Darauf steht "In Memorial 1867-1936"

Der Gedenkstein für die Synagoge (Bild: Abels ((CC BY-SA 2.0)).

Irgendwo hier. Wo genau wurde schnell vergessen. Auf dem Nachbargrundstück entsteht in den 60ern eine Kongresshalle, für die dann auch noch das zweite jüdische Gebäude, das Gemeindehaus abgerissen wird. Und als diese Ende 2022 erweitert werden soll, finden Archäolog*innen bei einer Notgrabung dann die Überreste der Synagoge – und das in einem überraschend guten Zustand. Aber:

Was bedeutet dieser Fund?

Der Fund der Synagoge ist gerade für die jüdische Gemeinde in Gießen wichtig. Dow Aviv zum Beispiel, gehört heute zur jüdischen Gemeinde in Gießen. Seine Eltern haben die Shoah überlebt. Und seine eigenen Familienmitglieder waren Zeugen davon, wie die Synagoge damals niedergebrannt wurde. Für ihn ist es auch seine Familiengeschichte, die jetzt wieder sichtbar wird. Teil der jüdischen Geschichte in Deutschland. Aber sie ist auch Teil der Stadtgeschichte Gießens. Aviv wünscht sich

Einblick in den Bodenbefund der Synagoge. ca. 1 Meter hohe Mauerzüge.

Ein Blick in die Synagoge heute (Bild: Lars Görze – LfDH)

deswegen, dass dieser Fund ein Erinnerungsort wird. Man dachte lange, dass da nichts mehr ist – dass man maximal noch ein paar Kleinigkeiten finden wird. Tatsächlich haben sich die Grundmauern aber über die Zeiten hinweg erhalten. Sie geben nun Einblick in die Geschichte der jüdischen Kultur in Hessen. So ist ein Erinnern möglich, das viel tiefergehend ist, als nur mit einem Gedenkstein. Sie liegen jetzt frei, die Spuren der Menschen, die die NS-Zeit oftmals nicht überlebt haben.

Wie war die Geschichte der Synagoge?

Gießen hatte einmal eine Jüdische Gemeinde mit rund 1.000 Mitgliedern. Die Synagoge an der Steinstraße reichte nicht mehr aus und so wurde zwischen 1865 und 1867 eine neue Synagoge gebaut. Mitten in der Stadt – gegenüber des Stadttheaters. Und die “Neue Synagoge” ist die, die nun bei der Notgrabung zutage kam. Sie war 1892 einmal erweitert worden und bot danach Platz für 500 Personen. Zu der Zeit, in der sie niedergebrannt wurde, waren die beiden Gemeinden aber schon bedenklich

Das Bild einer dreischiffigen Synagoge mit einer klassizistischen Fassade

„Die Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde in Gießen, vor 1938“, (in: Historische Bilddokumente)

zusammengeschrumpft, es lebten 1938 noch 364 Juden in Gießen. Und dennoch war die “Neue Synagoge” mehr als nur das Gotteshaus der Gemeinde, es war auch ein kulturelles Zentrum. Als 1938 die Brandstifter kamen, waren es SA-Männer in Zivilkleidung, die so den Eindruck unterstreichen wollten, sie kämen aus der Zivilbevölkerung. Die Feuerwehr kam auch, leistete den Brandstiftern Hilfe, in dem sie nur Nachbargebäude mit Wasser bespritzten, damit diese nicht auch Feuer fingen.

Und was hat man genau gefunden?

Man hat die Kellerräume der Synagoge gefunden. Und alles, was da so in den Kellerräumen der neuen Synagoge herumlag und was nicht vom Feuer zerstört wurde, fand man jetzt in den Kellerräumen – und auch die Brandspuren von 1938. Aus Berichten der Zeitzeugen ist bekannt, dass gerade die Frau des Synagogendieners im Keller war und die Heizung überprüfte, als die Männer der SA an die Tür klopften, um

Ein weiterer Blick zeigt die Engen brusthoch erhaltenen Kellerräume aus Backstein. Im Hintergrund eine Art Ofenloch.

Man kann die Kellerräume nachvollziehen (Bild: Lars Görze).

die Synagoge erst zu verwüsten und dann anzuzünden. Es war einer der letzten Momente, in denen das Gebäude von der jüdischen Gemeinde genutzt wurde und eben auch gepflegt wurde. Genau diese Heizung hat sich erhalten und wurde freigelegt – und zwar mit der Kohlenrutsche, mit der die Kohlen einmal in den Keller geschafft wurden. Die Mauern sind teils brusthoch erhalten. Und das in einem Bereich des Hauses, der quasi in der letzten Sekunde noch genutzt wurde.

Und was lag im Keller der Synagoge?

Am Boden des Kellers lagen, vom Zahn der Zeit vergessen, Schnipsel und Überreste hebräischer Bücher, die in Leder gebunden waren. Sie werden nun konservatorisch behandelt, um sie zu erhalten und natürlich um herauszufinden, welche Schriften genau im Keller der Synagoge lagen. Ein Fuß eines Chanukkaleuchters aus Sandstein, der offenbar bei dem Feuer durch den Boden des darüberliegenden Geschosses durchgebrochen und in den Keller gefallen ist, konnte ebenso identifiziert werden. Zu

Ein altes Foto von einem Schuttberg hinter einem Zaun.

Die Trümmer der “Neuen Synagoge” in Gießen (Bild: Stadt Gießen).

dem Zeitpunkt, wo dieser Artikel entsteht, ist aber erst ein Drittel der Synagoge freigelegt. Wichtige Bestandteile wie die Mikwe, also das Ritualbad, wurden dabei noch nicht entdeckt. Und weil sich Fundplätze besser erhalten, wenn man sie im Boden lässt, wird im Moment auch nicht weiter gegraben, sondern der Ort mit dem Bodenradar erfasst. Eine Methode, mit der man ähnlich wie bei einem Echolot in den Boden sehen kann, ohne zu buddeln. Es zeigt sich aber – der noch nicht ergrabene Teil ist sehr viel schlechter erhalten als die nun freigelegten Mauern.

Was macht man jetzt mit diesem Fundplatz?

Dass man so einen tiefen Einblick in die jüngere Deutsche Geschichte findet, damit hatte niemand gerechnet, als man entschieden hat, die Kongresshalle auf diesem Gebiet zu vergrößern. Nun ist aber klar: Man will erinnern. Und dazu gibt es viele Ideen. Erst einmal gab es die Idee, hier eine Glasplatte drauf zu machen, damit die Gießener Synagoge so bewahrt wird und man sie ansehen kann. Aber: Die Archäolog*innen sind von dieser Idee nicht überzeugt. Denn an diesem Fundort besteht die große Gefahr,

Luftbild vom Befund. Deutlich zu sehen sind die drei Kelleräume.

Auf dem Luftbild ist die Synagoge gut zu erkennen (Bild: Stadt Gießen).

dass Schimmel entsteht und dann würden die Gebäudereste doch noch vollständig verschwinden. Jetzt gibt es die Idee, die Kongresshalle so zu bauen, dass man die Überreste der Synagoge begehbar macht. Dass eine Halle über den Fundplatz errichtet wird, die ihn schützt und man so in den archäologischen Befund hineingehen kann. Ob das umgesetzt wird, ist noch unklar – aber dass die Kongresshalle, die hier entstehen soll, inzwischen umgeplant wird, ist bekannt. Die jüdische Gemeinde hat nun den großen Wunsch, bei den Planungen mitreden zu dürfen.

Die Archäologie kann noch mehr zur Gedenkkultur beitragen:

Man kann einen solchen Bodenbefund mit 3D-Scannern einscannen und so, auch mithilfe alter Bilder, ein Modell erschaffen, wo die Synagoge wieder zum Leben erweckt werden kann. Also zumindest digital. So kann man vom Computer aus, aber auch an einer neu entstehenden Gedenkstätte, ein genaues Bild von dem hier verloren gegangenen Kulturerbe bekommen. Das Leben und den Alltag in der Synagoge nachvollziehen. Einerseits die Funde wirklich berühren und sich andererseits dazu

Blick auf die Ausgrabung.

Die Ausgrabung derzeit (Bild: Stadt Gießen).

digital zeigen lassen, wie es einmal war. Auch die weiteren Funde könnten dabei gezeigt werden. Sie sind authentische Zeitzeugen. Dieser Befund ist für eine Aufarbeitung der Geschichte Gießens, also etwas ganz Besonderes. Er zeigt das, was verloren gegangen ist durch die Verbrechen der Nazis. Holt die Geschichte des jüdischen Lebens der Stadt wieder zurück – deutlich sichtbar – erlebbar. Und es ist jetzt an der Archäologie, Vorschläge zu erarbeiten, wie man dieses Erinnern gestalten kann.

Übrigens, Miss Jones lebt von Spenden – wenn du solche Beiträge wichtig findest, dann kannst du mir ein Trinkgeld über Paypal schicken.

Literatur:

https://denkmal.hessen.de/presse/bedeutende-fundamente-der-neueren-giessener-geschichte

https://www.hessenschau.de/gesellschaft/ueberraschungsfund-in-giessen-ueberreste-der-verbrannten-synagoge-entdeckt-v1,synagoge-giessen-kongresshalle-ausgrabung-100.html

https://www.hessenschau.de/gesellschaft/ueberraschungsfund-in-giessen-ueberreste-der-verbrannten-synagoge-entdeckt-v1,synagoge-giessen-kongresshalle-ausgrabung-100.html

https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/besonderer-fund-in-giessen-reste-der-verbrannten-synagoge-tauchen-auf-92095355.html

https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/synagogen-reste-entdeckt-92095032.html

https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/man-bekommt-hier-gaensehaut-92141090.html

https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/grundmauern-der-neuen-synagoge-bei-bauarbeiten-entdeckt/

https://www.giessen-aktuell.de/ueberraschungsfund-hinter-der-kongresshalle.html