Wie wurden in der römischen Republik Wahlen gewonnen? – Ein antiker Ratgeber gibt Aufschluss

Gastbetrag von Jens Crueger:
Nach dem Studium der Geschichte mit reichlich soziologischen Anteilen an der Uni Bremen, habe ich mich beruflich auf politische Bildung und Demokratiearbeit und räumlich auf Oberfranken festgelegt. Sowohl meine Bachelor- als auch meine Masterthesis habe ich über archäologiegeschichtliche Fragen geschrieben, und interdisziplinäre Ansätze zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologie begeistern mich bis heute.

Wir schreiben das Jahr 64 vor Christi Geburt. Ein gewisser Marcus aus der Familie der Tullier bewirbt sich das erste Mal um das Konsulat, das höchste Staatsamt in der römischen Republik. Seinen Zeitgenossen wie auch den nachfolgenden Generationen ist dieser Mann unter seinem Beinamen bekannt: Cicero.

Dieser Kandidat gehörte nicht zum politischen „Establishment“. Er war Sohn eines Ritters. Konsul aber wurde man in aller Regel nur, wenn man einer Familie der senatorischen Oberschicht entstammte. Seit über 30 Jahren hatte es keinen „Emporkömmling“ mehr gegeben, der aus dem Stand der Ritter den Sprung in die römische Spitzenpolitik geschafft hätte.

Marmorbüste eines älteren Mannes. Er hat die Stirn in Falten gelegt, sein Haar ist etwas ausgedünnt, er ist etwas dicklich.

Eine Büste des Circero (Bild: José Luiz Bernardes Ribeiro/CC BY-SA 4.0).

Ciceros Kandidatur stand also unter schwierigen Vorzeichen. Vielleicht war genau das der Grund, warum ein aus heutiger Sicht bemerkenswertes Schriftdokument entstand. Denn Ciceros Bruder Quintus, selbst ein namhafter Politiker, schrieb dem Kandidaten wohl im Jahr 65 oder 64 einen Brief zur Unterstützung seines Wahlkampfes. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass in der Forschung die Urheberschaft von Quintus mitunter angezweifelt und ein Plagiator als Autor vermutet wird. Die Frage nach der Autorschaft kann wohl nicht abschließend beantwortet werden. An der Qualität des Briefinhaltes ändert dies indes wenig. Der Brief enthält zahlreiche höchst interessante Tipps, wie eine erfolgreiche Wahlkampagne zu organisieren sei. Solch ein Dokument ist für die Antike einmalig, und es ist ausgesprochen aufschlussreich.

Wahlen ohne Demokratie

Die (späte) römische Republik im letzten vorchristlichen Jahrhundert, Zeiten der Cicero-Brüder also, war keine Demokratie im heutigen Sinne. Es handelte sich eher um eine Aristokratie bzw. Oligarchie. Innere Zerfallsprozesse hatten längst dazu geführt, dass sich die Bindungen der einfachen Menschen an die politische Führungsschicht erheblich gelockert hatten.

Marmorstein mit Aufschrift SPQR

Senatus Populusque Romanus „Senat und Volk von Rom“

Bei den Wahlen zu den Staatsämtern spielten immer stärker individuelle Gründe den Ausschlag zur Stimmabgabe. Die Bedeutung von Wahlkämpfen und Wahlkampagnen nahm also zu, weil der Anteil der „Wechselwähler“ wuchs.

Die perfekte Wahlkampagne

Die Organisation einer Wahlkampagne müsse umsichtig geplant sein, so liest man in dem Ratgeber. Schließlich sei Ciceros Wahlziel ehrgeizig und die Widerstände gegen seine Kandidatur seien bereits deutlich absehbar. Cicero müsse daher „jedes planmäßige Vorgehen, Konzentration, Mühe und Sorgfalt“ aufwenden, um seine Kampagne zu organisieren. Das Rückgrat einer jeden Wahlkampagne, nämlich die Aktivisten, nennt Quintus „Freunde“.

Eine weite grüne Landschaft mit einem Wasserlauf un einigen Bäumen. In weiterer endfernung laufen drei in Toga gekleidete männer und wirken dabei freundschaftlich ins gespräch vertieft.

Bild von Richard Wilson ca. 1771, es zeigt Circeo seinen Freund Atticus und seinen Bruder Quintus.

Um zügig eine möglichst große und damit schlagkräftige Kampagne aufzubauen, solle Cicero im Wahlkampf all diejenigen „Freunde“ nennen, die bereit seien, ihn zu unterstützen. Das gelte auch für diejenigen, die er im Alltag überhaupt nicht zu seinen Freunden zählen würde. Dies klingt zwar scheinheilig, aber diesen Eindruck wies Quintus weit von sich. Es werde geradezu erwartet, dass ein Bewerber scheinbar wahllos Freundschaften schließe. Es handele sich dabei um ein Signal für die Ernsthaftigkeit der Kandidatur. Eine Kampagne in der späten römischen Republik musste also von möglichst vielen Unterstützern getragen werden, zu denen der Kandidat freundschaftliche Nähe vortäuschte.

Unterstützer führen zum Erfolg

Zunächst müsse eine ausreichend große Anzahl Unterstützer gewonnen werden. Um dies zu schaffen, solle Cicero diejenigen, die ihm aus alter Dankbarkeit verpflichtet seien, daran erinnern, sich für diesen Gefallen jetzt revanchieren zu können. Diejenigen hingegen, die ihm keinen Gefallen schuldeten, müsse Cicero durch kleine Gefälligkeiten davon überzeugen, sich für seinen Wahlkampf zu engagieren. Er müsse die Hoffnung wecken, dass er sich seinen Unterstützern verpflichtet fühle und sich nach der Wahl erkenntlich zeigen werde. Vor allem junge Menschen aus dem Ritterstand, so weiß es Quintus zu berichten, seien in hohem Maße bereit, sich für einen Wahlkampf zu engagieren.

Cicero spricht vor einem halb besetzten Parlamentsraum. Alle tragen Toga.

Fresko „Cicerone denuncia Catilina“ von Cesare Maccari (1889)

Auf das Engagement junger Menschen gestützte Wahlkampagnen sind auch heute ein vertrautes Bild. Für die jungen Römer aus der Ritterschaft wird ihr Standesgenosse Cicero ein leuchtendes Vorbild gewesen sein. Eine Kampagne zu organisieren stellte bereits damals, wie auch noch heute, eine logistische Herausforderung dar. Der Kandidat müsse jedem Unterstützer eine genaue Aufgabe zuteilen und deren Leistungen stets im Auge behalten. Er müsse den Eindruck vermitteln, die Fortschritte seiner Wahlkampfhelfer sehr genau zu registrieren.

Prominente machen den Unterschied

Ziel der Kampagnenorganisation müsse es sein, so lehrt Quintus seinem Bruder, ein möglichst breites Netz von Unterstützern aufzubauen, um auf diese Weise so viele Wähler wie möglich zu erreichen. Die Großstadt Rom ebenso wie den hinterletzten Winkel Italiens müsse Cicero mit seiner Kampagne abdecken. Daher solle sich der Kandidat in allen gesellschaftlichen Gruppen, besonders aber in den wichtigen und einflussreichen, vernetzen und Unterstützer suchen. So etwas nennt man heute Zielgruppenwahlkampf. Den Unterstützern mit hoher öffentlicher Bekanntheit und Popularität komme besondere Bedeutung zu. Diese allseits beliebten Multiplikatoren würden nämlich überproportional viele Wähler erreichen und mobilisieren können. Prominente des 21. Jahrhunderts, seien es Literaten wie Günter Grass für die SPD oder Hollywood-Stars wie Scarlett Johansson für Barack Obama, sind als Wahlkampfhelfer ein durchaus wirkungsvolles Instrument moderner Wahlkampagnen. Das Wissen über den Nutzen solch prominenter Schützenhilfe besaß man also schon in der Antike.

Einsame Kandidaten gewinnen keine Wahlen

Seine Aktivisten sollten jeden Tag in großer Zahl öffentlich präsent sein, so rät es Quintus seinem Bruder. Bei jedem Auftritt in der Öffentlichkeit müsse sich der Kandidat von einer großen Menge seiner Unterstützer begleiten lassen, die sich aus allen gesellschaftlich relevanten Gruppen zusammensetzen sollten. Auch hier achtet Quintus also sehr genau auf die verschiedenen Zielgruppen, die eine Kampagne erreichen soll.

Der lateinische Text

Ich könnt euch den lateinischen Text übrigens mittlerweile auch in einer digitalisierten Version ansehen.

Durch eine solche Eskorte erwecke ein Kandidat den Eindruck, beliebt und chancenreich zu sein. Welche Bedeutung einem solchen Begleittross zugemessen wurde, erkennt man am Hinweis des Quintus, falls einer der ständigen Begleiter einmal verhindert sei, so müsse sich dieser unbedingt vertreten lassen – notfalls von einem Verwandten.

Der ideale Wahlkämpfer

Das zweite Große Kapitel in Quintus’ Brief widmet sich den Ratschlägen für das richtige Verhalten eines Kandidaten, der möglichst viele Wählerstimmen gewinnen will. Zunächst einmal gelte für die Werbung von Stimmen in der breiten Wählermasse das Gleiche, wie für das Werben von Freunden. Ein tadelloser Ruf sei dabei die Basis für ein gutes Wahlergebnis, dieser beginne schon mit einem guten Ruf beim eigenen Hauspersonal.

Leute in überwiegend roter Kleidung. ca 10 Personen beobachten einen Mann der einen anderen am Arm einen weg entlang führt.

Diese Miniatur aus dem Mittelalter (ca. 1024) zeigt Cicero mit seinem Bruder, wie dieser aus dem Exil zurückkehrt.

Fangen wir dort an, wo das Werben der Wähler offenbar am einfachsten war. Die Bewohner ländlicher Gebiete seien besonders leicht zu gewinnen, schreibt Quintus, bei ihnen reiche es schon aus, sie mit dem Namen anzureden, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Für den anspruchsvolleren Wahlkampf in der Stadt Rom sei vor allem die Präsenz, ja geradezu Omnipräsenz des Kandidaten wichtig. Überall in der Öffentlichkeit müsse nach Stimmen geworben werden, wenn nötig, müssten unentschlossene Bürger auch mehrfach angesprochen werden.

Bürgernahe Kandidaten

Vom Charakter eines erfolgreichen Wahlkämpfers hat Quintus genaue Vorstellungen. In Wahlkampfzeiten müsse er leutselig und schmeichelnd sein. Bewerber, denen diese Eigenschaften fehlten, müssten sie für die Dauer des Wahlkampfes vorspielen.

Der Mahlstein. An der unter kannte sind noch Reste einer Gravur, die offenbar auch mal mit roter Farbe gefüllt war zu erkennen.

Der Mahlstein aus Pompeii. Bei genauen Hinsehen sind noch Reste der Wahlwerbe Gravur, die der Mahlstein einst hatte, zu erkennen – Wahlkampfgeschenke waren also schon im antiken Rom wichtig.

Im öffentlichen Auftreten solle der Kandidat auf übertriebene Pracht verzichten, umso besser könne den Konkurrenten dann Verschwendungssucht nachgesagt werden. In punkto Wohltätigkeit und Großzügigkeit gegenüber dem Volk solle sich Cicero hingegen auszeichnen. Er müsse jederzeit ansprechbar sein für die Wünsche der Bürger, von ihnen erbetene Unterstützung solle er prinzipiell zunächst zusagen. Falls dies aber aus taktischen oder strategischen Gründen nicht möglich sei, so solle er die Absage wenigstens mit freundlichen Worten begründen. Denn eine in freundliche Worte gehüllte Lüge, so urteilt Quintus, sei den Menschen immer noch lieber, als die blanke Wahrheit.

Wahlkampfversprechen und wie man sie bricht

Quintus wurde noch deutlicher: Im direkten Gespräch während des Wahlkampfes Jedem Alles zu versprechen und dann später einige enttäuschen zu müssen, sei immer noch besser, als sofort alle unrealistischen Forderungen abzulehnen. Dem, der sofort nein sage, würde dies übler genommen, als dem, der zunächst ja sage, dann aber an der Einlösung des Versprechens scheitere. Sollte sich der Kandidat am Ende bei seinen Wahlversprechen übernommen haben, so könne er immer noch darauf hoffen, dass nicht alle gegebenen Versprechen eingefordert würden. Müsse man dennoch am Ende einige Unterstützer enttäuschen, so würden sich diese wenigen zwar resigniert abwenden, aber das hätten sie wohl ebenso getan, hätte man ihnen von Anfang an eine ehrliche Absage erteilt. Die Offenheit und analytische Nüchternheit in Quintus Ausführungen lesen sich für uns heute so ungewohnt wie interessant. Denn die Fragen nach der Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit von Wahlversprechen sind bis zum heutigen Tag ein regelmäßiges Thema vor und nach Wahlen.

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Literatur:

https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/gfa/article/download/76991/70851#:~:text=Das%20commentariolum%20petitionis%20richtete%20sich,wesentlichen%20Wahlkampfstrategien%20seiner%20Zeit%20zusammen.

https://www.jstor.org/stable/4435210

https://www.buecher-koenig-nk.de/shop/item/9783534208807/commentariolum-petitionis-von-quintus-tullius-cicero-kartoniertes-buch#