Der älteste Auerochse Europas

Es war im Jahr 2010, als ich im niedersächsischen Amt für Bodendenkmalpflege in Hannover ein Praktikum gemacht habe. Ich war damals in verschiedenen Bereichen des Hauses tätig und immer wieder auch in den Räumen, wo die Funde lagern, restauriert werden und Blockbergungen schlummern. Und jedes Mal bin ich dabei an dieser Blockbergung vorbeigelaufen, aus der diese beiden Hörner mit gut 1 m Spannweite herausschauten. Ich nannte den Block damals liebevoll Hörnchen, und grüßte ihn jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeilief, freundlich: “Moin Hörnchen!” und als ich dann, Jahre später, im Museum in Schöningen war, gab es ein Wiedersehen mit meinem alten Freund.

Aber wer ist mein alter Freund “Hörnchen” eigentlich?

Hörnchen ist ein Auerochse, der vor 300.000 Jahren an einem Seeufer im heutigen Niedersachsen gelebt hat. Er ist vmtl. am Uferrand gestorben, die Sedimente (Bodenschichten) in denen er lag, konnte man anhand der Muscheln, die sich um ihn herum befanden, sehr gut datieren. Und weil er unter dem Grundwasserspiegel lag, ist

Ich sitze neben dem Schädel auf dem Boden.

Alte Freunde wieder vereint.

dieser Auerochse erhalten. Er gilt heute als der älteste bekannte Auerochse Europas. Hörnchen wurde bei Ausgrabungen im Tagebau Schöningen in 10 m Tiefe entdeckt. Man hat den Schädel von diesem Auerochsen, der 110 cm lang und 40 cm breit ist, als Block geborgen, um ihn unter Laborbedingungen freizulegen.

Was ist eine Blockbergung?

Eine Blockbergung ist relativ einfach erklärt: Man hat einen Fund und der ist aber erst angegraben. Das heißt, man hat rechtzeitig gemerkt, dass es ein toller Fund ist. Und dann entscheidet man, man will alles lieber in Ruhe im Labor freilegen. Das kann verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel muss es manchmal bei einer Ausgrabung recht schnell gehen. Und eine unachtsame Bewegung kann dazu führen, dass man den Befund aus Versehen zerstört, bewegt, weil er vielleicht filigran ist, oder aber man hat zum Beispiel schlechtes Wetter und will den Fund vor der Witterung schützen. Eine

Ein rundes Stück Erde ist eingegipst, und jetzt wird auch von oben eine Mullbinde darauf gemacht.

Ein Beispiel einer kleinen Blockbergung aus Gips (Bild: Schreiber (CC BY-SA 3.0)).

Ausgrabung ist immer eine Zerstörung. Man kann die einzelnen Erdkrümel nie wieder so zurücklegen, wie sie einmal lagen und so wird manchmal entschieden, Funde als Block zu bergen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Strategien. Zum Beispiel kann man den Befunde rundherum eingipsen, damit die Erde nicht mehr verrutscht und das Ganze wird unterhöhlt und auch von unten fest befestigt. Dann kann man diesen Teil der Ausgrabung als Block ins Labor bringen. Oder man versucht eine Holzkiste, um den Befund herum zu bauen. Die kreativste Variante einer Blockbergung, die ich jemals gesehen habe, wurde mit Bauschaum umgesetzt. Der Befund wurde immer ein stückweise untergraben und die Lücke mit Bauschaum ausgespritzt, dann wurde weiter unterhöhlt und wieder ausgespritzt, bis der ganze Befund in ausgehärtetem Bauschaum eingebettet lag und sich kein Erdkrümchen mehr bewegen konnte.

Und warum wurde Hörnchen im Block geborgen?

Die Entscheidung fiel, weil alle anderen Knochen des Auerochsen problemlos zu bergen waren, aber: Der Schädel war viel fragiler und es handelte sich um eine Rettungsgrabung mit begrenzter Zeit an der Abbruchkante eines Tagebaus. Es musste schnell gehen. Und schnell ist bei einem fragilen Fund ein Problem. Deswegen hat man den Schädel als Block geborgen. Das war gar nicht so einfach, denn Hörnchen lag 300.000 Jahre in einer Feuchten Umgebung. Beim Tagebau war nun aber das Wasser

Ich bin für euch mal an die Tagebaukante gegangen. Der Tagebau ist heute stillgelegt. Ihr seht, es ist da so hoch, ich stehe auf Höhe der Baumkronen. Kein sicherer Ort für einen zerbrechlichen Fund, zumal damals noch die Bagger fuhren.

abgepumpt worden und beim Freilegen kamen die Knochen an die Oberfläche. So eine rasche Veränderung des Feuchtigkeitsniveaus hält ein Fund nicht unbedingt aus. Deswegen musste Hörnchen permanent bewässert werden. Man macht das mit Sprühnebel und damit es länger feucht bleibt und auch im Labor noch feucht ist, umwickelt man so einen Fund dann mit Frischhaltefolie. Um Hörnchen in einem Stück aus der Erde zu heben, hat man eine Stahlplatte unter dem Fund in die Erde gerammt und den ganzen Fund mit der Stahlplatte herausgehoben. Dabei ist natürlich darauf zu achten, dass das Gewicht auf der Platte gut verteilt ist, damit sich der Fund nicht durch sein Eingengewicht, oder eine schlechte Gewichtverteilung auf der Platte zerdrückt beim Hochheben.

Aber so eine Blockbergung kann auch mal schiefgehen

Ja, zugegeben, ich habe auch schonmal eine Blockbergung aus Versehen versemmelt. Leider von so einem Filigranen Fund, dass der dann direkt zu Staub zerfallen ist. Aber ich bin auch nicht die beste Ausgräberin, muss ich gestehen. In Schöningen ist das anders, denn hier haben wir einen der wichtigsten Fundplätze der Welt. Hier hat man die Stahlplatte mithilfe von zwei Führungsschienen in den Boden gerammt, und dann festgestellt, sie ist zu weich, um den Befund zu tragen. Deswegen wurde der Fund dann

Offensichtlich selbst zusammengezimmerte Holzkisten

Hier ein anderes Beispiel, von einem anderen Fundplatz. Eine Holzkiste wird um den Befund gebaut (Bild: Hindemith (CC BY-SA 3.0)).

nach und nach untergraben und alles noch mit Holz verstärkt. Und dann eine Holzkiste um den Fund herum gebaut, um ihn schließlich abtransportieren zu können. Und damit man während dieser Arbeiten nicht aus Versehen die Hörner verbiegt, die ja schon aus der Erde herauslugten, hatte man diese mit nassem Zeitungspapier ausgestopft, und überlagert, und das ganze mit Gipsbinden gesichert und mit Frischhaltefolie. Diese hatte man als der Holzkasten fertig war, entfernt und durch eine stabilere Folie ersetzt, damit Hörnchen auch weiterhin im Feuchten blieb. Man hat vier Personen gebraucht, um ihn Tragen zu können.

Und was zeigte die Untersuchung in diesem Fall?

Hörnchen ist vermutlich am Seeufer an einem natürlichen Tod verstorben. Seine Knochen lagen noch im Verband. Das heißt, niemand hat ein Stück abgerissen und davon getragen. Weder Tier noch Mensch haben sich an ihm zu schaffen gemacht – aber man hat Spuren von Menschen in seiner Nähe gefunden – genauer gesagt ein einzelnes Steinwerkzeug. Vermutlich ist er irgendwie gestorben, als er im Wasser am Ufer stand. Dann ist er langsam im Sediment des Seen verschwunden. Das Besondere ist – Hörnchen hatte einen sehr großen Schädel und seine Hörner haben vermutlich

Der Schädel von Vorne. Man sieht deutlich das abgeknickte Horn.

Nahaufnahme vom Schädel – die Verwitterung ist klar zu erkennen.

noch längere Zeit aus dem Seewasser herausgeragt, bis auch sie langsam im Wasser verschwanden und auch zu sedimentierten. Das kann man auch daran erkennen, dass die äußere Hülle des Horns unter solchen Umständen verwittert. Spuren, die man an diesem Schädel erkennen kann. Der Schädel lag leicht geneigt im Wasser, deswegen sind die Hörner auch verschieden angegriffen von der Witterung. Lange, nachdem Hörnchen schon unter der Erde lag war, gab es dann eine Art kleinen Erdrutsch, dabei ist eines seiner Hörner dann ein bisschen abgeknickt.

Wie geht man dann mit so einem Auerochsenschädel um?

Aufgrund dieser Geschichte ist sein Erhaltungszustand auch nicht besonders gut. Man wollte den Schädel aber für die Ausstellung im Museum in Schöningen konservieren. Außerdem ist der älteste bekannte Auerochse Europas schon etwas Besonderes. Aber: er war eben ein bisschen bröselig. Ihn zu konservieren war deswegen schwieriger als bei anderen Knochen aus Schöningen. Deswegen hat man entschieden, einen Teil der Erde, auf dem der Schädel lag, genau dort zu belassen, damit er nicht auseinanderbricht. Das war aber auch ein Problem, weil sich beim Trocknen sowohl

Ein paar Heckrinder. Zu sehen ist, sie sehen irgendwie kurz aus.

Das ist eine Nachzüchtung, das Heckrind. Sie sieht dem Auerochsen nur ähnlich (Bild: Frisch (CC BY-SA 2.5)).

Erde als auch Knochen in der Form etwas verändern und dann nicht mehr zusammenpassen. Deswegen hat man sich dazu entschieden, alles langsam und gezielt trocknen zu lassen – und das war genau in der Zeit, in der Hörnchen und ich Freundschaft schlossen. Nach dem Trocknen wurde er mit Konservierungsmittel behandelt. Erst als das alles ausgehärtet war, hat man den Block freigelegt. Dabei zeigte sich, dass der Knochen etwas fester war als erwartet. Hörnchen konnte ganz freilegt werden, dann hat man ihn endlich untersucht und ausgestellt.

Und was wissen wir heute über Hörnchen?

Hörnchen ist ein Bovide. Das heißt, er ist ein Rind und gehört zu den Vorfahren unserer Hausrinder. Der letzte Auerochse ist übrigens erst im 17. Jahrhundert verstorben, diese Tierart gab es also sehr lange. Es gibt Nachzüchtungen, die sog. Heckrinder, die sind aber nur optisch im Ansatz vergleichbar mit dem Auerochsen. Auerochsen waren größer und es waren wehrhafte Tiere, bei denen auch die Weibchen massive Hörner hatten. Es handelt sich um Herdentiere, die im Sommer in kleinen Gruppen und im Winter in größeren Herden zusammenlebten. Auf Felsbildern wie in Lascaux ist zu

Malerei aus Lascaux. Links und rechts ist je ein Auerochse, in der Mitte sind Pferde.

Zwei Auerochsen aus den Felsbildern von Lascaux (Gemeinfrei).

erkennen, dass sie zum Teil Flecken haben. Ein Hinweis, dass sie in dieser Zeit keine natürlichen Feinde hatten. Denn wenn eine Jägergemeinschaft ein einzelnes Beutetier in einer Herde ausmacht, das sie gemeinsam angreifen, ist eine individuelle Ausprägung des Felles von Nachteil. Welche Fellfarbe Hörnchen hatte, ist aber unklar. Man weis nur, es war ein Männchen und er starb im Alter zwischen 7 und 8 Jahren. Er wäre kein leichtes Opfer gewesen. Warum oder woran er starb ist unklar, aber die Knochen zeigen: Hörnchen war Krank und hatte vermutlich bei jedem Schritt Schmerzen und auch beim Kauen. Ich finde das traurig. Für meinen alten Freund hätte ich mir etwas anderes gewünscht.

Miss Jones bezahlt übrigens dafür, dass du das hier kostenlos lesen kannst. Aber: Du kannst ihr mit diesem Paypallink ein Trinkgeld schicken, damit sie nicht alles ganz alleine Zahlen muss.

Literatur:

Utz Böhner, Jens Lehmann, Michael Meier, Gabriele Schulz, Jordi Serangeli und Thijs van Kolfschoten: Ein über 300.000 Jahre alter Auerochse aus den Seesedimenten von Schöningen. Befund, erste zoologische Interpretation, Bergung und Restaurierung. Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 3, 2010.

https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=14563