Obdachlos im Studium – wie geht das?

Obdachlos im Studium? Wie geht’s das? Und wie kann es dazu kommen? Und wie kann ich Betroffenen helfen? Ich möchte euch heute einen Teil meiner Geschichte erzählen. Die Frage ist also, was ist überhaupt passiert:

Meine Geschichte zeigt: Jeder Mensch kann obdachlos werden

Nachdem ich den Bachelor abgeschlossen hatte, ging ich für den Master nach Wien. Ich nahm mir ein Studierendenzimmer. Das ist ein Zimmer von jemanden, der erwachsene Kinder hat und die leerstehenden Kinderzimmer billig an Studierende vermietet. Ich gelangte so zu einem durchgeknallten Vermieter. Dieser versuchte Kontrolle über mein Leben zu bekommen, mir seine Weltsicht aufzuzwingen – er störte sich daran, dass ich nicht katholisch war. Das Ganze endete damit, dass er mir drohte, mich in meinem Zimmer zu verbrennen, um mir beizubringen, wie sich eine fügsame Frau zu verhalten hat. Ich musste fliehen. Ich war in Lebensgefahr.

Eine Frau in grüner Kleidung sitzt auf einem Gehweg vor einer Wand auf dem Boden. Links von ihr ist ein Mülleimer, rechts von ihr ein Koffer.

Ich hatte in der Situation nichts mehr. Aber ich war auch glücklich, dass ich lebte (Bild: Hassan (Pixabaylizenz)).

Dann stand ich auf der Straße. Ich studierte weiter. Obdachlos. In der Uni musste ich immer wieder wegrennen. Nach meiner traumatischen Erfahrung hatte ich eine Zeitlang Panik in geschlossenen Räumen in höheren Stockwerken (und wer schon mal im Wiener Institut war, weiß wie hoch es da ist). Ich habe am Ende die Uni abgebrochen. Das Gerichtsverfahren gegen meinen Vermieter dauerte 1 1/2 Jahre. Eine Zeit, in der ich keine neue Wohnung suchen konnte, da mir das Geld, dass ich als Kaution hinterlegt hatte, fehlte. Danach war es verdammt schwer, mich wieder zurückzukämpfen. Aber ich habe es geschafft und den Masterabschluss nachgeholt.

Wie ging es weiter, auf der Straße?

Zunächst bin ich bei Freunden untergekommen, dann in einem Haus für Punks. Das war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Das Haus hatte ein Verein gemietet. Es ist so ähnlich wie das Konzept Housing First, dass es in Finnland gegen Obdachlosigkeit gibt. Man hat die Möglichkeit, sofort zu wohnen und selbstständig sein Leben zu organisieren. Finnland zeigt: Das funktioniert und ist sogar kostengünstiger als andere Formen der Obdachlosenhilfe. Hier eine Doku über unser Projekt:

Wenn der Mietvertrag von dem Haus „Pizzeria Anarchia“ in Wien nicht gekündigt und das Projekt medienwirksam zerstört worden wäre, dann hätte ich mein Studium in Ruhe abschließen können. So stand ich abermals auf der Straße, während das Gerichtsverfahren gegen den Vermieter immer noch lief. Durch ein paar Ausgrabungen hatte ich zwar etwa 3.000 € verdient, aber die mussten auch für meinen Lebensunterhalt für ein Jahr reichen. Eine Kaution für eine neue Wohnung war nicht drin. Ich hielt Wien nicht mehr aus und war so oft wie möglich irgendwo anders.

Der Alltag war zunächst ein Doppelleben

Ich kann nicht behaupten, dass ich einen Alltag hatte. Ich war bei Sozialarbeitern, die obdachlose Punks betreuen, angemeldet, aber zog es vor, meine Angelegenheiten selbst zu regeln. Doch: Ganz normale Alltäglichkeiten waren ein Problem. Mein Handy war mein ständiger Begleiter. Rumtelefonieren – wo kann ich Wäsche waschen – wo kann ich duschen. Oft schlich ich mich aus Uniseminaren raus, um mich auf der Toilette heimlich zu waschen. Wenn jemand zur Tür hereinkam, verschwand ich in Windeseile in einer Klokabine. Aber ich glaube, dass ein paar Kommilitoninnen das bemerkt haben.

Eine Gasse, und am Ende die Zytglogge

Ich fuhr nach Bern, 2 Tage habe ich vor der Zytglogge jongliert, um das Geld für das erste Museumsticket zusammenzubekommen und den Blog zu beginnen.

In den Gruppen, mit denen ich unterwegs war, wusste jeder, dass ich studiere. Sie legten sogar Wert darauf. Verzichteten auf Strom für ihre Handys, damit ich mit meinem Laptop lernen konnte. An der Uni habe ich meine Probleme versteckt. Bei dem archäologischen Institut in Wien gibt es einen Park, meinen Rucksack versteckte ich in einem Busch. Im Winter fing es einmal an zu schneien. Meine Sachen wurden nass. Freunde stellten dann meine Sachen unter. Auch toll: Die Sozialarbeiter, bei denen ich gemeldet war, hatten ein Postfach, das aussah wie eine normale Adresse – damit konnte ich weiter studieren, krankenversichert sein und arbeiten. Irgendwann war ich dann müde von diesem Doppelleben und begann mein eigenes Ding zu machen. Das war die Geburtsstunde von Miss Jones.

Das Problem mit Menschen, die einem helfen

Natürlich gibt es in so einer Situation Menschen, die helfen. Aber es gibt auch Hilfe, die problematisch ist. Z.B. die Geschichte, dass man Obdachlosen eher was zu essen kaufen soll, als ihnen Geld zu geben. Denn die kaufen sich sonst Schnaps. Ich habe in der gesamten Zeit auf der Straße genau einmal ein halbes Radler getrunken – Jeder CSU Politiker säuft mehr als ich. Aber selbst, wenn: Einen Alkoholiker ohne Betreuung auf kalten Entzug zu setzen, kann den umbringen. Wenn jemand Drogenprobleme hat, braucht diese Person Hilfe. Gemacht wird das Gegenteil. Ich weiß nicht, wie oft mir Mehrkornbrötchen geschenkt wurden. Leider habe ich eine Allergie gegen Sesam und blieb dementsprechend hungrig. Schlimmer aber: Helfer können sogar gefährlich sein.

Einige Laib Brot in einem Haufen.

Brot (Symbolbild)

Es gibt Männer, die einem einen Schlafplatz anbieten und dann sexuelle Gegenleistungen fordern, als Dankeschön für die großzügige Hilfe. Ich konnte immer wegrennen, aber, ich habe dabei gelernt genau zu schauen, wie Menschen sich verhalten. Auch in Freundschaften kann helfen toxisch werden. Eine Art jemanden herumzukommandieren. „Als Dankeschön könntest du ja …“ – das ist keine Hilfe! Helfen kann sogar eine Tarnung sein, dir das Gefühl zu geben unfähig zu sein. Bei mir geht das natürlich besonders einfach, weil das Selbstbewusstsein auf der Straße kaputtgeht. Durch Sprüche wie „geh arbeiten“, „hättest du mal in der Schule aufgepasst“…

Wie kommt man aus so einer Situation wieder raus?

Meine Antwort ist: Man muss einen Traum haben und sich an ihm festhalten. Journalisten haben mich damals nach Lampedusa mitgenommen. Als wir dort waren, habe ich gemerkt, dass ich sie durch meine archäologische Ausbildung, unterstützen kann. Wir haben eine außergewöhnlich gute Recherche gemacht. Ich hatte Spaß, alles, was ich tat, machte Sinn. Mir wurde klar: Die meisten wissen gar nicht, was Archäologie alles kann. Deswegen gründete ich Miss Jones.

Boote liegen im Wüstensand. Im Vordergrund sind zwei Holzbppte zu sehen die mit dem Bug zueinander liegen, und dahinterliegende weitere Boote verdecken. Das rechts bot ist weis blsu rot gestrichen das linke in weis und blau.

Ich habe damals das erste Mal einen Schiffsfriedhof mit Fluchtbooten entdeckt.

Für den ersten Artikel habe ich in Bern zwei Tage vor der Zytglogge jongliert, bis ich das Geld für einen Museumsbesuch zusammen hatte. Die Uni hatte ich lange geschmissen. Ich versuchte noch zweimal einen Neustart in Wien. Dann wurde mir klar, ich muss nach Hause. Mir fehlte das Gefühl, irgendwo hinzugehören. In Hamburg konnte ich bei Freunden unterkommen. Als die sahen, wie ich kämpfte, half erst einer einen Job, als Küchenhilfe zu finden, dann konnte ich in ein Zimmer ziehen, mit einer richtigen Meldeadresse und schließlich zog ich in eine Übergangswohnung.

Dann begann der eigentlich harte Teil der Geschichte

Die Übergangswohnung war ein schrecklicher Ort. Erdgeschoss in einer unsicheren Region, 2 Stunden Fußmarsch von meinem Zuhause entfernt. Ich hatte jede Nacht Angst. Ich war allein, schutzlos und isoliert. Es war still, das machte mir noch mehr Angst. Die Elbe floss bei Flut durch die Dusche in die Wohnung. Es schimmelte und die Heizung ging nicht. Alle dachten, mir geht es gut. Kaum jemand verstand: Obdachlos ging es mir besser! Ich blieb, um den Master zu schaffen.

Eine Frau ist am Boden gekauert und hat die Arme um die Beine geschlungen.

Nach den ganzen Jahren des Trubels brüllte mich die Stille aus vollem Halse an (Bild: Anemone (Pixabaylizenz)).

War aber zunehmend depressiv. Der Corona-Lockdown bedeutete für mich keine Veränderung – ich war seit 2017 bereits im Lockdown. Nach 5 Jahren Horrorwohnung, habe ich dann endlich ein Zuhause gefunden. Ich wollte schon aufgeben – einfach wieder auf der Straße leben. Doch Wohnungsbesichtigung 1003 war erfolgreich. Das ist jetzt erst 1 1/2 Jahre her und ich brauche immer noch, um anzukommen.

Wie kann ich denn am besten jemanden helfen, der offensichtlich auf der Straße lebt?

Was willst du und was kannst du? Gib der Person ruhig Geld oder frage, was sie braucht – das können manchmal auch Tampons und ähnliches sein. Manchmal hat mir jemand eine Wiener Melange oder einen Tee ausgegeben. Das verschönert einen ganzen Tag. Einmal stand auch ein etwa neunjähriges Mädchen vor mir und fragte, ob ich gar keinen Schal hätte. Dann nahm sie ihren ab und gab ihn mir. „Aber, was sagt denn deine Mami dazu?“, da kam eine Frau und sagte „Mami sagt, das ist okay“.

Ich selbst mit dem bunten Schal um den Hals.

Ich habe den Schal bis heute, aber mittlerweile trage ich ihn nur noch, wenn es richtig kalt ist, oder ich krank bin, weil ich viel zu viel Angst habe ihn zu verlieren.

Dieser Kinderschal hat mich warmgehalten. Ich habe ihn bis heute und werde ihn nie weggeben. Er hat mir Mut gemacht, weiterzumachen. Was auch hilft, ist, sich Zeit nehmen. Ohne Vorurteile, einfach zuhören. Das hilft mehr als ihr glaubt. Denn gesehen und ernst genommen zu werden, baut den Selbstwert wieder auf, den man braucht, um sich selbst zu helfen. Das ist auch das Wichtigste, das ich für das Leben gelernt habe: Mit ganzen Herzen zuhören löst ganz viele Probleme.

Übrigens finanziere ich Miss Jones bis heute selbst. Deswegen freue ich mich über Trinkgeld – das hilft mir nämlich dabei!