Der Häuptling Sibo Attena und sein einzigartiges Grab

Es ist ein trauriger Anlass. Der Häuptling ist tot. Er starb 1473. Nur 13 Tage später stirbt seine Frau im Kindbett und auch das Baby hat all das nicht überlebt. In Gedenken an ihren Häuptling errichten die Esener aus dem Harlingerland ein Grabmonument in der St. Magnuskirche.

Ein Granitstein mit einer Grabkammer und einem massiven Sargdeckel. Auf dem Sargdeckel ist ein betender, liegender Mann dargestellt.

Das Grabmal von Sibo Attena in Esens (Foto: Gemeinfrei – leider sind meine eigenen Fotos sehr verwackelt, weswegen ich hier eines aus dem Internet genommen habe).

Es ist kunstvoll gearbeitet und wird dort die Jahrhunderte bis heute überdauern. In dem Grab liegt nicht nur der Angesehene Sibo Attena (auch Sibet oder Sibett Attena), sondern auch ein Baby, vmtl. sein Sohn. Wo seine Frau beigesetzt wurde, ist heute nicht bekannt. Aber wer war Sibo Attena? Ich möchte euch mitnehmen, nach Ostfriesland ins Mittelalter, die Zeit der Piraten und Häuptlinge:

Häuptlinge warum Häuptlinge?

Ostfriesland liegt heute an der niedersächsischen Nordseeküste und in Teilen der Niederlande. Keine Region, wo man unbedingt diese Bezeichnung vermuten würde. Aber das ist ein Irrtum. Wie genau die Strukturierung Ostfrieslands in Häuptlingstümer entstanden ist, ist nicht sicher erklärt. Aber es gibt eine plausible Vermutung:

Historisierende Darstellung des Upstallßboom ungefähr aus der Zeit um 1790.

Das Problem hier direkt an der Küste waren von jeher Sturmfluten. Und so hatte es sich etabliert, dass jede Familie einen Teil des Küstenschutzes übernehmen musste, um einen Beitrag zum Schutze aller zu leisten. Dieser Anteil war von der Größer her äquivalent mit dem eigenen Besitz. Es gibt eine Art Ältestenrat, dieser trifft sich am Upßtallsboom, um alles Wichtige und Recht zu sprechen. Diesen Abschnitt der Geschichte nennt man friesische Freiheit. Man vermutet, dass dieses System, das sehr demokratisch anmutet, schon in der Karolingerzeit etabliert war. Und vermutlich hat sich das dann nach und nach entwickelt. Denn gegen 1000 n. Chr. wird dann in dieser Region der erste Deich gebaut. Und der Deichbau steht in Wechselwirkung mit der Gesellschaftsordnung in dieser Region.

Zeichnung von einem Hügel mit einer flachen Ebene und zwei alten Bäumen. Der Hügel ist von vielen Menschen umgeben und einige sind auch auf der Plattform.

Eine historisierende Darstellung des Upßtallsboom aus dem 19. Jahrhundert.

Im 12. Jahrhundert sind diese Gebiete aus der Perspektive anderer deutscher Regionen ungeregelt. Eine Herrschaftsstruktur, die nicht von Gottesgnaden ist, wird nicht verstanden. Die einzige Struktur dort, die Außenstehende verstehen, ist die Kirche, die seit Adam von Bremen großen Einfluss in Ostfriesland hat. Die Art der Administration Ostfrieslands ändert sich aber. Dabei ist nicht zu beobachten, dass der Upßtallsboom

Darstellung des Deichbaus aus dem Sachsenspiegel (1336).

niedergeschlagen wird. Er wird einfach immer weniger besucht und löst sich nach und nach auf. Denn, wer viel Land hat, der musste auch mehr für die Sicherheit aller sorgen. Das heißt, je reicher eine Familie war, um so mehr tat sie für den Schutz aller. Dadurch stieg das Ansehen. Dieses konnte allerdings auch wieder sinken. Wenn die Familie ihre Aufgabe nicht erfüllte, oder mit den Schäden einer Sturmflut überfordert war – Denn der Deichbau lag ja zu großen Teilen in ihrer Verantwortung. Dieses Vorgehen, den Schutz sicherzustellen, wurde als fair empfunden. Und das hohe Ansehen einiger Familien versprach Schutz. Deswegen schlossen sich mehr und mehr Leute diesen Familien an, ernannten sie als Anführer*innen. Ich gendere hier bewusst, da es auch weibliche Häuptlinge gab.

Piraten, Häuptlinge und ewige Streitigkeiten

Die Hanse war nicht weniger zimperlich bei den Hinrichtungen von Piraten. (Foto: Museum für hamburgische Geschichte (CC BY-SA 2.5).

Dies ist ein Sonderweg der Ostfriesen. Als die Hanse erblühte, hatte dies für die ländlichen Häuptlingstümer Nachteile. Die großen Geschäfte wurden woanders gemacht. Viele Ostfriesen, aber auch z.B. Dänen, wollten auch ein Stück vom Kuchen und wurden Piraten. Die Häuptlinge verdienten fleißig mit. Sie gaben den Piraten Unterschlupf. Besonders bekannt ist heute Marienhafe als Piratenunterschlupf. Doch es ist überliefert, dass gerade die Piraten aus dem Harlinger Land nicht die zimperlichsten gewesen sind. Es gibt Aufzeichnungen über Verhandlungen zwischen der Hanse und den Häuptlingen aus dem 14. Jahrhundert. In einer Zeit, in der im Harlinger Land in jeder Familie irgendjemand der Piraterie nachging, mussten die Häuptlinge schließlich darauf eingehen, dies in Zukunft nicht mehr zu unterstützen. Diese Zeit, die zur See abenteuerlich klingt, ist auf dem Festland nicht weniger wild. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts werden Häuptlingstümer als offizielle

Ulrich I, Ulrich Cirksena, Malerei aus der Zeit um 1750, die ihn historisierend darstellt.

Verwaltungsform anerkannt. Häuptling Ulrich Criksena hatte das System in ein dynastisches umgewandelt und stand damit in der Gunst des Heiligen Römischen Reiches, welches diese Form der Herrschaft nun doch anerkannte. Aber die Häuptlinge neigen dazu, sich zu bekämpfen, in dieser Zeit, in der sich das politische System neu ordnete, zum Beispiel, um Einflussgebiete zu vergrößern. Die Angelegenheiten werden mit Angriffen auf Häuptlingsfamilien gelöst, mit Mord und Gewalt. Private Fehden zwischen Häuptlingen steigerten sich immer weiter, denn für die Friesen gilt das Gesetz der Blutrache. Die Miniaturstaaten bekriegen sich also fortwährend.

Das Häuptlingstum Esens und Wittmund

In diesen Zeiten suchen die Menschen zunehmend Schutz und schließen sich noch eifriger den Häuptlingen an und der Bau von Schutz wird wichtiger. Burgen werden errichtet. Ostfriesische Burgen: Esens beispielsweise bekommt nicht nur eine Burg, Esens wird eine Burg. Die ganze Stadt wird befestigt. Das ist bis heute auf dem Stadtplan zu sehen, denn die Strassenläufe sind gleich geblieben. Ein Häuptling lebt hier nicht alleine, sondern muss hier seine ganze Bevölkerung in Sicherheit bringen.

Esens und seine Befestigung ca im 16. Jahrhundert.

Häuptling sein ist also nicht einfach ein geerbter Titel, sondern durch Taten legitimiert. Durch Schutz, die Verwaltung der Region und durch eine kluge Rechtsprechung. Denn: Ein großer Teil der Mündigkeit aus der Zeit der friesischen Freiheit ist erhalten geblieben. Die Häuptlinge sind also gut beraten, faire Entscheidungen zu treffen und besonders kluge Familienangehörige, oft Frauen, als Richterinnen zu bestimmen. Das Häuptlingsamt ist groß und anstrengend, die Aufgaben werden in der Familie immer wieder verteilt, um alles zu schaffen. Je besser die Aufgaben gemeistert wurden, umso anerkannter waren die Häuptlinge.

Und wer ist jetzt dieser Häuptling Sibo Attena, der mit diesem schmucken Grab geehrt wurde?

Sibo Attena wurde 1425 geboren und war ursprünglich der Häuptling von Dornum, einem eher kleinen Häuptlingstum. Er war nicht der berühmteste oder bekannteste aller Häuptlinge. Aber: Er war klug. Einer der bekanntesten Häuptlinge ist wiederum der schon gezeigte Ulrich Cirksena – der Onkel von Sibo. Sibo nutzte seine Fähigkeiten, diente seinem Onkel als Gefolgsmann und wurde zu einem seiner engsten Vertrauten. Der Grund: Sibo war immer loyal gewesen – So loyal, dass er 1464 zum Ritter geschlagen wurde. Nur ein Jahr später verstarb Sibos erste Frau Onna.

An Sibo Attenas Grab sind viele Löwen zu sehen, die Wappen halten, die seine verschiedenen familiären Verbindungen zu Häuptlingsfamilien anzeigen.

Später heiratete Sibo dann Margarete Addings, eine Nachfahrin von tom Brok (Ja, das schreibt man so), einem der berühmtesten Häuptlinge. Doch nicht durch seine Verwandtschaft kam Sibo zu großen Ehren. Sein Onkel vererbte ihm den Titel Häuptling von Esens. Ulrich Criksena, hatte das dynastische Prinzip im Harlinger Land eingeführt. Da er nur Töchter hatte, wollte er so das Häuptlingstum eigentlich an diese weitervererben. Das Problem dabei war allerdings, dass er seine Kinder überlebt hatte. Und so entschied er sich bei der Vererbung, für seinen treuen und klugen Neffen. Kaum ist Ulrich Cirksena beerdigt, geht schon der Streit um den Herrschaftsanspruch los – kein Wunder – nicht alle sind mit dem neuen System einverstanden.

Karte, In der Mitte ein fast rechteckieger Landstrich, der im Norden an die Nordsee grenzt, darüber die Insel Langeoog.

Ausschnitt einer Karte aus der Zeit um 1600 – in der Mitte das Harlinger Land.

Es beginnen harte Kämpfe um Wittmund. Der Ort hat schon zum Harlinger Land gehört, als die ersten Kirchenschriften über diese Region entstanden. Aber nun werden einige Wittmunder Burgen eingenommen, die Sibo aber alle wieder zurückerobern kann. Er erschafft damit vor allem eines: die Verfestigung des Harlingerland als ein eigenständiges politisches Gebilde, in den Grenzen, von Esens bis Wittmund. Deswegen gilt er als der Häuptling von Esens und Wittmund, Herr des Harlingerlandes. Er war derjenige, der das neue System verteidigte, und damit die Zukunft des Harlingerlandes sichergestellt hat.

Zum Dank ein typisch ostfriesisches Ehrengrab

Der Häuptling Sibo Attena bekam ein sog. Bildnisgrabmal. Die frühsten Gräber dieser Art in Ostfriesland stammen schon aus dem 12. Jahrhundert. Der Blaustein für die Gräber wurde immer aus Westfalen importiert. Das Grabmal von Sibo Attena ist im Vergleich besonders Edel. Eine Kunstfertigkeit, die in den ostfriesischen Werkstätten selbst in dieser Zeit noch nicht bekannt ist, die erste ostfriesische Bildhauerwerkstatt gibt es erst im 16. Jahrhundert in Emden.

Das Bildgrab. Ein Betender liegender Mann aus Granit.

Das gotische Grab ist qualitativ sehr hochwertig.

Das heißt, es wurden Bildhauer von außerhalb beauftragt. Weniger kostspielige Gräber erkennt man also leicht an der Qualität. So ist z.B. das Grab von Gerd Pektum besonders stümperhaft. Möglich, dass hier ein ungelernter Ostfriese am Werk war. Oder aber, die Bezahlung war schuld. Die Bildgrabmäler wurden pro Stück bezahlt. Da Pfusch abzuliefern, ist natürlich verlockend. Vor allem, wenn ein Bildstein von einem kurzerhand engagierten Wanderarbeiter gemacht wurde, was oft geschah.

Detail, ein Mann mit einer Flachen Nase, und Locken liegt betend auf ein Kissen gebettet. Alles ist in Granit geschlagen.

Für Ostfriesland finden sich viele kunstfertige Details an diesem Bildstein.

Aufgrund der hohen Qualität ist der Bildstein von Sibo Attena also besonders auffällig und einzigartig, viele Details werden gezeigt, wie seine Familienwappen, oder sein Schwert. Alles unterstreicht seine besondere Rolle für Esens und das Harlinger Land.

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Literatur:

Johannes C. Stracke: Die Bildnisgrabmale Ostfrieslands vom 15. bis 17. Jahrhundert.

Dr. Almuth Salomon: Geschichte des Harlingerlandes bis 1600. In: Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands Band XLI, Ostfriesische Landschaft (Hrsg.), Aurich 1965.

Hemmo Suur: Die Geschichte der Häuptlinge Ostfrieslands, Wiesbaden 1968, Neudruck der Version aus dem Jahr 1846.

https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjtveKMopz2AhXKSfEDHbcbCkEQFnoECA0QAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.ostfriesischelandschaft.de%2Ffileadmin%2Fuser_upload%2FBIBLIOTHEK%2FBLO%2FAttena_Sibet.pdf&usg=AOvVaw0ij8gb-82J4XVauuNcp67A

http://www.museumsweg.de/deichbau.htm

https://www.stadt-esens.de/seite/231706/geschichte.html